Der Turm der Musikhochschule in Stuttgart – leise ist es hier nie. Foto: Leif Piechowski

Seit er für das Publikum gesperrt ist, richten sich alle Augen auf den Stuttgarter Fernsehturm. Doch es gibt noch viele andere Bauwerke in der Stadt, die hoch hinausstreben. Wir stellen sie in unserer Sommerserie vor. Heute: Der Turm der Musikhochschule.

Stuttgart - Ganz still ist es auf dem Turm der Musikhochschule nie. Nachts singen die Reifen der Fahrzeuge auf der Bundesstraße 14, der Hauptverkehrsachse durch die Stadt. Tagsüber entweichen dem Gebäude Klangfetzen, Sätze aus Etüden, schmetternde Töne. Am Abend wird die Hochschule fast täglich zur großen Bühne für Studierende und namhafte Gäste. „Im Schnitt finden 350 Konzerte pro Jahr statt“, sagt Jörg R. Schmidt vom Künstlerischen Betriebsbüro. Nur Minarette werden öfter bespielt.

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Türme in Stuttgart und Region

Das alles findet zumeist im Bauch des postmodernen Rundlings statt und folgt einer geplanten Anordnung: über allem die Theorie, dazwischen die Wissenschaft und darunter die daraus resultierende Praxis. Deshalb ist im Sockel der Konzertsaal eingerichtet, darüber liegt die zweigeschossige Bibliothek. Durch eine große, runde, verglaste Öffnung fällt Licht auf die paukenden Studenten. Sie können jederzeit den Himmel sehen und damit das, was außerhalb des Turms der Lehre vor sich geht.

Jeder Musikstudent muss sich Musiktheorie, Komposition und Gehörbildung aneignen. Deshalb sind die Unterrichtsräume und Büros der Professoren rund um diesen Lichtschacht und direkt über der Bibliothek angeordnet. Jeder Raum ist eine Art Tortenstück mit gewölbter Fensterfront für Ausblicke auf die Nachbarhäuser, die Hügel, die Staatsgalerie. Der Senat aber hat die beherrschendste Position im Haus: ein Büro, dessen Fenster auf die Stadt hinausgehen, mit Blick auf die früheren und heutigen politischen Zentren der Macht, die Schlösser und den Landtag. Die Hochschulvertreter tagen übrigens an einem ovalen Konferenztisch, den nicht alle alltagstauglich finden. Aber: Die Architekten Wilford (London) und Schupp (Stuttgart) wollten nichts Eckiges ins Runde pressen.

Aus diesem Blickwinkel wird das Gesamtkonzept von James Stirling und Michael Wilford klar

Hier, auf Ebene 11, endet der Aufzug. Wer noch höher hinauswill, kommt nur zu Fuß weiter und landet auf der Terrasse der Musikhochschule. Kreisrund, mit Durchblicken durch Bullaugen und rechteckige, bis zum Boden gezogene Durchbrüche, die unten verglast sind. „ Man braucht schon ein bisschen Überwindung, um ganz nach vorn zu treten“, sagt Jörg R. Schmidt. Dem alten Hasen macht das nichts aus, auch den Studenten nicht, die hier oben gern ihre Mittagspause verbringen. Aber als Erstbesucher erschrickt man dann doch vor dem Abgrund, der sich vor den Fußspitzen auftut.

Die Perspektive von hier aus ist bestechend. Die ganze Stadt ist zu überblicken und doch so nah, dass viele Details zu erkennen sind: Blühende Dickblattgewächse auf begrünten Dächern, Grills auf kleinen Stadtbalkonen, man kann der Hauptverkehrsachse mit den Augen vom Österreichischen Platz bis zum Neckartor folgen oder den Besuchern der Staatsgalerie, die in der Rotunde wandeln.

Aus diesem Blickwinkel wird das Gesamtkonzept von James Stirling und Michael Wilford klar. Das Londoner Architekturbüro hatte den Wettbewerb für den Neubau der Staatsgalerie, der Hochschule und des Landesmuseums gewonnen. Stirling erlebte allerdings nur die Einweihung der Staatsgalerie, den zweiten Bauabschnitt vollendeten die Architekten Wilford und Schupp in Stirlings Sinn: Die Geometrie der Staatsgalerie zu spiegeln – und zu vollenden.

Bei der Staatsgalerie hatte Stirling mit der Rotunde einen leeren Zylinder geschaffen, der Musikhochschulturm sollte umgekehrt den vollen Zylinder darstellen – „the cork out of the bottle“ hatte er seinen Entwurf für das Ensemble beschrieben. Gäbe es Riesen, so könnten sie den Musikhochschulturm problemlos auf die Rotunde setzen, denn die Durchmesser sind angepasst.

Zum Glück sind Riesen Märchengestalten. So bleibt der Turm der Musikhochschule, wo er ist, und Besucher können weiterhin in die 11. Etage fahren, sich in der Stadt mittendrin und doch erhaben fühlen, umweht von singenden Reifen und Musikfetzen.

In unserer Turm-Serie bereits erschienen:

Sprungturm im Inselbad - Die Mythen um den Zehn-Meter-Turm

Bismarckturm - Zwischen Heiratsantrag und Zerstörungswut

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