Dominic Piers Smith ist im Hauptberuf Ingenieur bei Mercedes Foto: Smithpic

Sie sind Ärzte, Juristen, Ingenieure, Unternehmer. Und sie spielen exzellent Klavier. Am Wochenende war der „Pianomarathon Internationaler Meisteramateure“ zu Gast beim Musikfest – mit packenden Ergebnissen.

Stuttgart - Er muss wissen, was Schmerzen sind. Thomas Yu betreibt eine gut gehende Zahnarztpraxis im kanadischen Calgary; „awesome“, fantastisch, sei er , schwärmen Patienten in einem Internet-Bewertungsportal, außerdem freundlich, kenntnisreich, geduldig, klug. Und konservativ – was allerdings keine politische Einordnung ist, sondern nur heißt, dass hier einer alte Zähne zu bewahren sucht, bevor er sie zieht.

Zugegeben, Beethovens Musik ist von Wurzelresektionen ziemlich weit entfernt. Aber als Thomas Yu am Sonntag dessen Opus 111 spielte, ging es ihm auch hier um das Bewahren von etwas, das unter seinen flinken, feinen Fingern neu erblühte. Klug und kenntnisreich spielte der Mann, der das oft so negativ verstandene Attribut des Amateurs mit sich herumschleppt wie ein Stigma und der doch hörbar nichts so wenig nebensächlich findet wie ebendiese Musik.

Yu gestaltet sehr frei, vor allem in seinen Tempi. Das schmerzende Gefühl der Auflösung, das Beethoven vor allem dem etwa 20-minütigen Variationensatz der Sonate einkomponierte, hat er aber so tief verinnerlicht, dass dieser wirkt wie ein gefährdeter Traumtanz am Abgrund.

Manchmal könnte die linke Hand etwas härter, präsenter sein. Und manchmal, bei sehr raschen Läufen, ist der eine oder andere Ton nicht zu hören. Das fällt aber kaum ins Gewicht. Nicht nur wenn Yu, als habe er Zahnschmerzen, gelegentlich das Gesicht verzieht, bemerkt man den Willen, der ihn zum Flügel treibt. Man spürt die Energie, die er investiert haben muss, um neben seinem Beruf auf diesem Niveau des Klavierspielens und des Musikverstehens anzukommen.

Dass diese Energie zurückfließt, hat sein Kollege Dominic Piers Smith erfahren – allerdings „erst, nachdem ich die Musik aufgegeben hatte“. Als 18-Jähriger hat sich Smith von der Musik ab- und dem Ingenieurwesen zugewendet. Heute ist er bei Mercedes für das aerodynamische Konzept und die Saisonentwicklung der Formel-1-Rennwagen zuständig, und so kommt es, dass sogar Mercedes-Chef Dieter Zetsche, der ja auch in seiner Freizeit immer wieder Geige spielt, das Konzert seines Angestellten besucht.

Es sei, sagt Dominic Piers Smith, für ihn „existenziell wichtig, ein Gegengewicht zur Formel 1 zu haben“. Dass dieses nicht nur mit dem Kopf zu tun hat, beweisen nicht zuletzt die Repertoire-Vorlieben des Pianisten: Am liebsten, gibt Smith nämlich zu, spiele er Musik des 19. Jahrhunderts, „in die ich mich hineinfühlen kann“.

Anderen geht es ebenso, und entsprechend romantisch geprägt ist deshalb dieses Festival im Festival, das mit acht Konzerten im Neuen Schloss nicht nur den Begriff des Laien adelte, sondern auch den emotionalen Mehrwert musikalischen Tuns deutlich machte. Bemerken konnte man außerdem eine besondere Art der Unbedingtheit: Da wollen Menschen etwas beweisen, da ist Musik etwas Besonderes geblieben, das keinerlei Abnutzung durch Alltagsroutine oder durch die Notwendigkeit des Gelderwerbs ausgesetzt ist. Zuweilen meint man auch, dass bei denen, die Musik nur nebenberuflich betreiben, ein Stück mehr Leben durch die Klänge hindurchgeht.

Dieses Leben mag auch etwas Kämpferisches gehabt haben – wie bei Slava und Lana Levin, die vierhändig Moritz Moszkowskis „Deutschem Reigen“ alle Salonmusik-Leichtigkeit austreiben. Bei Rachmaninows Opus 11 kommen anschließend immerhin alle auf ihre Kosten, die pralle Bildlichkeit (im Scherzo) und breite Emphase (im Finalsatz) lieben. Da lassen die Russen, die am Moskauer Konservatorium studierten, heute aber in der medizinischen Bildverarbeitung und als Webdesigner in den USA arbeiten, wirkungsvoll alle Zurückhaltung fahren und die Finger präzise fliegen.

Auch Matthias Fischer ist vom Klavierstudium zur Biologie und zur Medizin gewechselt. In seinen Dissertationen beschäftigte er sich mit der schwarzbäuchigen Tau-Fliege und mit geistiger Behinderung. Heute arbeitet er als Psychiater – und fasst Mendelssohns „Variations sérieuses“ als weiten, fein verästelten Geistes- und Seelenraum, den er mit so guter Technik zum Klingen bringt, dass ihn mancher Profi beneiden muss.

Er hat aber viel Zeit investieren müssen und sehr viel Arbeit. Das tut nur, wer brennt. „Die Voraussetzung“, sagt Eberhard Zagrosek, „ist Leidenschaft.“ Der Initiator des Festivals spricht aus eigener Erfahrung, denn er selbst hat sich – im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder Lothar, Stuttgarts ehemaligem Generalmusikdirektor – zunächst gegen die Musik und für die Physik entschieden, ist nach drei Jahrzehnten im mittleren Management der Firma Siemens aber wieder zurückgekommen zu seinen Wurzeln. Und hat mit Amateur-Festivals und -Wettbewerben in Berlin andere dazu animiert, das ebenfalls zu tun: Pianisten, die ihr Studium abbrachen, weil sie meinten, die Perfektion glanzpolierter CD-Aufnahmen nie erreichen zu können; hochbegabte Menschen, die sich zurücksehnen nach dem, was sie in ihrer Jugend einmal bereichert hat.

Wenn Zuhörer diese Musiker hören, dann kann das für sie eine Aufforderung zum Selbermachen sein. Wer aber selbst musiziert – das weiß man aus etlichen Studien –, der füllt auch die Konzertsäle und bringt seine eigenen Kinder mit. Als „Propaganda an den Graswurzeln“ bezeichnet Zagrosek deshalb verschmitzt sein Tun. Also: Hört nicht nur Musik, sondern macht welche! Und: Spielen Sie mal wieder Geige, Herr Zetsche!