René Pape, Daniel Behle, Annette Dasch und Hans-Christoph Rademann im Beethovensaal Foto: StN

Musik sagt mehr als alle Worte – das hat der künstlerische Leiter der Bachakademie beim Eröffnungskonzert am Samstagabend eindrucksvoll bewiesen und damit selbst die verunglückte Eröffnungsrede Günther Oettingers vergessen gemacht.

Musik sagt mehr als alle Worte – das hat der künstlerische Leiter der Bachakademie beim Eröffnungskonzert am Samstagabend eindrucksvoll bewiesen und damit selbst die verunglückte Eröffnungsrede Günther Oettingers vergessen gemacht.

Stuttgart - Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. Durch den Schlossgarten ziehen Dunstschwaden, und in der Berger Kirche spielt ein schöner Gambist neben schöner, ruhiger Musik des Frühbarock eigene schöne Stücke, die der Musik aus der Hoch-Zeit seines Instrumentes nachempfunden ist. Vittorio Ghielmis Recital beginnt, noch bevor sich die ersten Sonnenstrahlen in den bunten Fenstern der Apsis brechen, Rudolf Guckelsberger streut poetische und biblische Texte zu Sonnenaufgang und Auferstehung ein, und so träumt sich das Musikfest Stuttgart in seinen ersten großen Tag hinein.

So hätte es ruhig bleiben können. Leider aber wird es erst einmal laut. Noch bevor beim großen Eröffnungskonzert des Musikfests am Abend der erste Ton erklingt, erhebt sich im Beethovensaal lauter Protest. „Aufhören!“, hört man, und „Schluss jetzt!“. Günther Oettinger, vom unerwarteten Gegenwind des Publikums aus der Bahn geworfen, bringt seine Festrede zu einem raschen Ende, sitzt den ersten Teil des Konzertes ab und wird im zweiten von niemandem mehr gesehen.

Tatsächlich hat der EU-Energiekommissar dem Publikum am Samstagabend nicht etwa die angekündigten Gedanken zum Festivalmotto „Herkunft“ vorgetragen, sondern zum aktuellen politischen Geschehen Stellung bezogen. Manches von dem, was er etwa zum Ukraine-Konflikt sagt, ist richtig, aber wer hier Parallelen zum Hitler-Stalin-Pakt zieht, wer pauschal von „dem Polen“, „dem Russen“ und „dem Litauer“ spricht und wer in der Heimat von Mercedes verkündet, man müsse ja nicht immer nur daran denken, die S-Klasse nach Moskau zu exportieren, der darf sich nicht wundern, wenn anderen das nicht gefällt.

Immerhin schafft Oettinger so beste Voraussetzungen für die Kunst, die danach unschwer beweisen kann, dass das Differenzierte ihre ureigene Domäne ist. Und Hans-Christoph Rademann, als künstlerischer Leiter der Bachakademie seit 2013 immer noch für Viele „der Neue“ nach dem ebenfalls anwesenden Helmuth Rilling, sorgt mit einem großen Abend dafür, dass beglückende Musik die verunglückten Worte vergessen macht.

Zu hören ist Joseph Haydns oratorisches Spätwerk „Die Schöpfung“: eine treffende Wahl, denn dieses Stück bringt Biblisches und Weltliches, Schöpfungsgeschichte und Aufklärung, Alt und Neu zusammen. Und es macht große Wirkung. Schließlich dürfte es niemanden geben, der bei dem ersten der beiden umwerfendsten C-Dur-Akkorde der Musikgeschichte (der zweite steht in Béla Bartóks „Blaubart“) keine Gänsehaut bekommt. Hans-Christoph Rademann sorgt dafür, dass der von Haydn komponierte Schöpfungs-Urknall wirkungsvoll zur Geltung kommt und spannt zudem mit kluger Disposition von Dynamik, Tempi und Klangfarben einen straffen Bogen über das Werk.

Dabei geht er zu Beginn, wenn er die orchestrale „Vorstellung des Chaos“ sehr frei nimmt, ein hohes Risiko ein. Man kann hier aber tatsächlich spüren, wie paradox der Versuch eines Komponisten der Klassik ist, Ungeordnetes in eine komponierte Ordnung zu zwingen. In der Folge leiden die ersten Sätze zwar noch unter leichten Synchronisierungsproblemen (auch im Dialog zwischen Chor und Orchester), aber das nimmt man gerne in Kauf.

Diese „Schöpfung“ ist sehr leise. Das liegt vor allem am Bach-Collegium Stuttgart, dessen Streicher vibratolos spielen und das Rademann klangfarblich sehr fein aufgefächert hat. Mit Hingabe zeichnen die Instrumentalisten die klingenden Naturbilder nach, die Haydn stets dem zugeordneten Gesangstext vorausschickt – als wolle auch er beweisen, dass Musik stärker ist als alle Worte. Die zurückgenommene Dynamik ist aber auch das Ergebnis eines Chorgesangs, der sehr schlank und beweglich wirkt. Die Gächinger Kantorei legt großen Wert auf eine klare Textaussprache. Klanglich ist noch mehr erreichbar, aber das Potenzial ist ebenso spürbar wie die Energie des Dirigenten und der Sänger, auf dem eingeschlagenen Weg miteinander weiterzugehen.

Die Spannung, von der diese „Schöpfung“ lebt, fußt auf den Kontrasten, die Haydn im Werk anlegte und die Rademann klug ausreizt. Hinzu kommt ein eminent starker Gestalter und Theatermensch: Der Bass René Pape macht nicht nur aus Sprache Musik (und umgekehrt), sondern pflanzt seinen Soli immer wieder sprechende Bilder und subtile Deutungen ein. Sogar den etwas betulich geratenen Schlussteil belebt er nachhaltig, indem er den besungenen „runden Früchten“ so viel Saft zusetzt, bis der (nicht komponierte!) paradiesische Sündenfall in ziemlich greifbare Nähe rückt.

Neben Pape fällt die Sopranistin Annette Dasch zwangsläufig ein wenig ab, denn ihre Höhe klingt nur ein einziges Mal, beim Blumenduft des Schlussduetts, wirklich rein und mühelos. Wer schließlich dem Tenor Daniel Behle zuhört, der erlebt in seinem Singen genau das, was auch Haydns Werk bis heute reizvoll macht: Hier wie dort durchdringen und bedingen sich Schlichtheit und hohe Kunst, Naivität und intellektuelles Kalkül. Das Publikum fühlt sich berührt und erhoben und feiert im Stehen die neue „Schöpfung“ und vielleicht auch die Neuschöpfung der Bachakademie.