Mötley Crüe-Sänger Vince Neil mit Background-Sängerinnen in der Schleyerhalle Foto: dpa

Keine andere lebte Sex, Drugs und Rock’n’Roll in den 1980ern so konsequent, um keine Band ranken sich mehr Gerüchte – nun sind Mötley Crüe auf ihrer Abschiedstournee, die am Sonntag in Stuttgart begonnen hat.

Stuttgart - Klagen und Jammern allerorten: Der Rock’n’Roll sei am Ende, Bands heute effiziente Unternehmen, die Ära, in der megalomanische Rockstars wie Dinosaurier über die Erde herrschten, vorüber. Am Sonntag in der Schleyerhalle dann die Antithese: Tommy Lee fährt inklusive Drumkit auf einer Achterbahn über die Köpfe der Zuschauer hinweg als leibhaftiger Gegenentwurf, Mötley Crüe präsentieren sich als letzte wirkliche Rockstars.

Alice Cooper eröffnet

Die Schleyerhalle ist alles andere als voll, die Tickets kosten 90 Euro aufwärts. Als wäre das selbstverständlich, spielt Rock-Ikone Alice Cooper (67) im Vorprogramm, ordnet sich Mötley Crüe unter. Er liefert in 45 Minuten eine Show, die auch die meisten Headliner alt aussehen lassen würde. Cooper badet im Funkenregen, wirbelt einen Degen durch die Luft, stolziert mit einer lebendigen Schlange über die Bühne, wird mittels der unverzichtbaren Guillotine hingerichtet. Das ist nicht neu, wird aber im Beisein einer sensationellen Band, die mit ordentlich Gusto und herrlich überzogenen Posen „No More Mr. Nice Guy“, „Poison“ oder „School’s Out“ abfeuert, zum Spektakel.

Im Zentrum steht die Show

Im Vergleich zu dem, was folgt, ist das allerdings gar nichts. Alles bei Mötley Crüe ist größer, lauter, überzogener und aberwitziger. Mit Explosionen, wild züngelnden Flammensäulen und einer kolossalen Scheinwerferbatterie steigen sie mit „Girls, Girls, Girls“ ein letztes Mal in den Stuttgarter Ring. Der Song bringt unverblümt auf den Punkt, worum es bei dieser Band geht, die Anfang der 1980er den Glam-Metal mit definierte: Keine andere lebte Sex, Drugs und Rock’n’Roll in den 1980ern so konsequent, um keine Band ranken sich mehr Gerüchte. Sie sind der in Stirnbänder, Leder, High Heels und Totenköpfe gehüllte Mythos dieser Musik.

Die klang schon immer ein wenig nach Stripclub-Soundtrack für betagte Herren, auch in Stuttgart sind zwei recht textilfreie Tänzerinnen dabei. Im Zentrum aber steht eine Show, in der selbst die Bandmitglieder nur Randerscheinungen sind.

Sänger Vince Neil ist in die Breite gegangen, aber noch immer gut bei Stimme, Bassist Nikki Sixx fällt weniger mit musikalischer Expertise denn mit kruden Geschichten aus seiner Trailerpark-Vergangenheit auf, Gitarrist Mick Marks spielt blitzsauber, aber regungslos, gezeichnet von Arthritis. Und Tommy Lee? Er war nie der beste Drummer der Welt, konnte seinen legendären Ruf aber unter anderem durch ein Filmchen mit einer gewissen „Baywatch“-Nixe zementieren.

Spaß – nur darum geht es

Nach einem vom Band gespuckten „O Fortuna“ hebt Lee ab, fährt wie besessen trommelnd über die Köpfe der ausrastenden Besucher hinweg, dreht sich um die eigene Achse, als wäre das ganz normal. Ja, das ist albern. Nein, das rechtfertigt nicht die gepfefferten Preise. Aber, verdammt noch mal: Es macht Spaß!

Und nur darum geht es. Stücke wie „Looks That Kill“ oder „Shout At The Devil“ wollen nur gut aussehen, wollen sexy sein, wollen Glamour und Dekadenz verbreiten. Wie ihre in die Jahre gekommenen Urheber also. Nach „Dr. Feelgood“ kommt mit „Kickstart My Heart“ jene Nummer, die Nikki Sixx nach einer überlebten Heroin-Überdosis verfasste.

Überlebende sind sie, und sie zelebrieren es: Sixx und Neil besteigen Kräne und fahren in ausladenden Bahnen durch die Halle, dann stolzieren sie zur Hallenmitte, spielen umringt von treuen Fans das sentimentale „Home, Sweet Home“ und verschwinden dann zu Sinatras „My Way“ in den Hallenkatakomben. Durchaus passend. Wilder, exzessiver und zügelloser konnte man die 1980er nicht überstehen. Wenn der Rock’n’Roll an diesem Abend tatsächlich von uns gegangen sein sollte, dann mit einem Paukenschlag.