Die Störche sind wieder da – hier in Biebesheim am Rhein. Foto: dpa

Die Wiederansiedlung des Storchs im Elsass ist dem in Colmar gegründeten Verein Aprécial zu verdanken, der 1983 zum Schutz des Storchs gegründet wurde. Allerdings ist es ein Erfolg mit Nebenwirkungen.

Straßburg - Der Storch geht in den Sinkflug, gleitet über das Flachdach eines luxuriösen Apartmenthauses in bester Lage. Jogger wie Politiker lieben diesen Teil Straßburgs: Villen aus der Gründerzeit, der Europarat, Botschaften und Konsulate umgeben die Orangerie. Auch die Störche fühlen sich in dem Park ausgesprochen wohl. Um das zu sehen, muss man gar nicht ins Zentrum der Orangerie vordringen, es reicht völlig aus, den Boulevard du Président Edwards am Rand der Grünanlage entlang zu gehen, den Hals zu recken und nach oben in die dichten Baumkronen zu gucken. Dort sitzen die Störche, klappern und genießen die Sonnenstrahlen. Auf dem Boden bildet die Vogelkacke einen Kranz um jeden Baumstamm. Der Storch flattert in diesem Augenblick in sein Nest, Auge in Auge mit den Büros der mexikanischen Vertretung. „Wenn sie wenigstens nicht so viel Lärm und Dreck machen würden . . .“, sagt eine Mittdreißigerin im adretten Sommerkleid ärgerlich und schlägt das Metalltor des Parks hinter sich zu. Der Storch sitzt jetzt unbeweglich im obersten Stock auf dem Balkongeländer.

Nach drei Jahrzehnten intensiver Pflege fühlt sich der Weißstorch wieder wohl im Elsass. Die Straßburger Orangerie mit hundert Nestern ist sicher eines der prominentesten Beispiele für die gelungene Wiederansiedlung einer Spezies, die Mitte der 1970er Jahre aus dem Elsass so gut wie verschwunden war. Dabei gehörte der Storch wie selbstverständlich zum Elsass – als eines der berüchtigten fünf „C“, die für die Identität der Region stehen: Cathédrale (das Münster), Choucroute (Sauerkraut), Colombages (Fachwerk), Coiffe (die Trachtenhaube) und eben Cigognes (Störche).

Mehrere Jahre mit kaltem Frühjahr vertrieben die Vögel

Zwischen 1960 und 1974 war die Population der stolzen weiß-schwarzen Zugvögel mit den schmalen roten Schnäbeln von 150 auf neun Paare zurückgegangen. Ein einziges Storchenpaar erfasste man noch im Südelsass. Viele Tiere verendeten an Starkstromleitungen. Ausschlaggebend für den dramatischen Rückgang waren mehrere Jahre mit Nässe und kalten Frühjahrstagen, die die Jungstörche nicht überlebten.

Dem Verschwinden des Storchs folgte ein allgemeines Wehklagen. Zwar gab und gibt es Störche auch anderswo, doch im Elsass fühlte man sich ihnen besonders verbunden. Hansi alias Jean-Jacques Waltz, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Bild vom Elsass mit seinen Motiven geprägt hatte, platzierte ihn gerne inmitten dörflicher Szenen. „Wir als Elsässer konnten nicht ohne Störche leben“, sagt Gérard Wey, zu dessen Lebensaufgabe die Wiederansiedlung des Weißstorchs werden sollte.

Gérard Wey wurde schnell zu „Monsieur Cigogne“

Doch erst zehn Jahre nach der Diagnose folgte der Eingriff. In Colmar wurde 1983 der Verein Aprécial zum Schutz des Storchs gegründet, die Association pour la Réintroduction de la Cigogne en Alsace Lorraine. Gérard Wey war damals eigentlich für Flurbereinigung und Forstwirtschaft im südlichen Elsass zuständig, doch man hielt ihn wohl für den Job des amtlichen Storchenschützers für geeignet. 1987 sattelte er um. Wey trieb den Ausbau der Aufzuchtstationen voran. Im Lauf der Jahre entstanden mehr als 20 Auswilderungsgehege, unter anderem im Ecomusée bei Ungersheim, in Eguisheim, Rouffach und eben in der Straßburger Orangerie. Gérard Wey ist über die Jahre „Monsieur Cigogne“ geworden, der Mann der sich der Stabilisierung der Storchenpopulation in den Dörfern und Städten des Elsass verschrieben hat. Am 20. März 1987 – der heute 62-Jährige erinnert sich ganz genau – hat er in Kaysersberg seinen ersten in Gefangenschaft geborenen Storch in die Freiheit entlassen. In jenem Jahr hatte sich der Bestand bereits erholt: 30 frei fliegende Paare wurden gezählt.

Bis heute war die Arbeit des Aprécial so erfolgreich, dass er jetzt aufgelöst worden ist. An die 800 Storchenpaare leben wieder im Elsass. „Die Population ist quasi wild geworden, und sie ist stabil“, sagt Gérard Wey. Vier von fünf Paaren der ersten ausgewilderten Generation seien damals in der Region geblieben. Erst die nächste Generation zog wieder über Spanien bis Gibraltar und auf den afrikanischen Kontinent. Odysseus fliegt gerade über Weißrussland. Lola, wie Odysseus und ein paar Dutzend andere Störche mit einem Sender ausgerüstet, entdeckt Wey am Bodensee. Mit einem Blick auf sein Smartphone erfasst Gérard Wey die Flugrouten der Vögel. Rot eingefärbte Netze bilden die Signale ab und ziehen sich wie über Stecknadeln gespannte Bindfäden über das digitale Bild.

Mit allerhand Tricks werden die Störche gelenkt

Gezüchtet und ausgewildert wird nun nicht mehr. Einige „centres de soins“ für verletzte oder kranke Tiere hat man behalten. Wey und seine Intuition wird man höchstens noch brauchen, wenn den Tieren neue Gefahr droht oder wenn einzelne Vögel von ihrem Weg abweichen. Zuletzt kam es immer wieder vor, dass Störche im Bannkreis einer Müllhalde überwintern wollten statt in den Süden zu ziehen. „Störche sind dort, wo es ihnen gut geht, wo sie Futter finden“, sagt Wey. Müllkippen seien ein Übel, weil sie manche Vögel von ihrer Reise nach Afrika abhalten.

Wie man sie von dort fernhält? Wey nimmt einen Holzgriff mit beweglichem Teil zur Hand. Das schüttelt er kräftig hin und her und erzeugt ein lautes Kleppern, ähnlich dem warnenden Schnabel-Geklapper eines Storchs. „Wenn sie das eine Weile anwenden, sobald sich Störche nähern, kapieren sie es.“ Forsch klappert der Mann mit dem struppigen weißen Haar drauflos. Rund um Deponien wie in Retzwiller und Wintzenbach ließ er Kojoten und Uhus aus Plastik in den Boden rammen. Und er erfand Vorrichtungen für Strommasten zum Schutz der stolzen Vögel. Bei Vogelkundlern erzeugte Wey bloß Kopfschütteln. „Es hat doch funktioniert“, sagt er mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen.

Er blickt wieder auf den kleinen Bildschirm, zieht die Augenbrauen zusammen und wischt mit der Fingerspitze über das Display. „Da, sehen sie, wo Reichertshofen gelandet ist? Auf einer Müllkippe bei Malpartida in der spanischen Extremadura.“

Der Vogel braucht Familie, Nahrung und ein Haus

Das Nest auf dem Dach von Weys eigenem Gehöft in Muntzenheim bei Colmar ist derweil leer geblieben. Es ist ein schlechtes Jahr. Wer Wey vorhält, die Störche seien mancherorts zur regelrechten Plage geworden, dem sagt er: „Wir müssen lernen, mit dem Storch zu leben, sonst funktioniert es nicht.“ Ein bisschen Storch hinzukriegen sei leider schwierig. „Im Krieg nahmen die Störche Reißaus“, sagt Wey. Wo die Menschen ihre Felder nicht mehr bestellten und die Vorräte erschöpft waren, da herrschte auch für ihn und seinen Nachwuchs Mangel. „Der Storch ist uns Menschen gar nicht unähnlich“, sagt Wey, „Er braucht seine Familie, Nahrung und sein Haus.“ Dann kehrt er immer wieder dorthin zurück, wo er passende Nistbedingungen findet. Wey erzählt von einem Storch in Turckheim, der sich mit einer älteren Störchin zusammengetan habe, seine Partnerin aber schließlich aus dem Nest schmiss und mit einer Jüngeren brütete. Der grauhaarige Herr lächelt. „Danach hat die junge Störchin sich des Männchens entledigt“, sagt er. Nicht alle Geschichten über den Weißstorch im Elsass gehen gut aus.