Walter Link fordert dazu auf, die Missbrauchsvorwürfe zunächst auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Foto: factum/Granville

Der ehemalige Schul- und Heimleiter der Korntaler Brüdergemeinde, Walter Link, hätte sich bei der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe von seinem ehemaligen Arbeitgeber mehr Unterstützung bei der Wahrheitsfindung gewünscht.

Korntal-Münchingen – - Walter Link ist wie kein zweiter den Jugendhilfeeinrichtungen der Brüdergemeinde verbunden. Der ehemalige Heim- und Schulleiter wünscht sich in der Diskussion über die Vorfälle in den Kinderheimen auch mehr Rückhalt seines einstigen Arbeitgebers.
Herr Link, was denken Sie, wenn Sie von Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs hören?
Ich gehe davon aus, dass es für Betroffene schwer ist sich zu offenbaren, weil das verbrecherische Vergehen gerade bei Heimkindern oft mit ambivalenten Gefühlen verbunden ist. Sie bekamen Zuwendung, die sie woanders vermisst hatten, und verdrängen deshalb lange Zeit das verbrecherische Element dieses Geschehens.
Detlev Zander spricht von 270 Fällen, andere von weniger. Klarheit gibt es nicht. Doch niemand will etwas mitbekommen haben.
Wenn es tatsächlich mehrere Hundert Betroffene gäbe, würde ich mich wundern, wenn nie etwas beobachtet oder geahnt worden wäre. Das Hoffmannhaus war eine offene Einrichtung. Durch den Reitbereich zum Beispiel kamen viele Kinder und Erwachsene der Stadt regelmäßig aufs Heimgelände. Das Schweigen des Ortes kann ich mir nur so erklären, dass es zumindest nicht Vorfälle in diesem Ausmaß gab. Auffallend ist auch, dass zu den Opfertreffen maximal 30 Betroffene kamen.
Sie bezichtigen die Betroffenen der Lüge?
Bestimmt nicht, aber wir haben mit Detlev Zander Erfahrungen gemacht, die es uns schwer machen, alles wörtlich zu nehmen, was er behauptet. Auch von seinen Mitstreitern wurden immer wieder Bedenken geäußert. So spricht er etwa immer noch von nicht ausbezahltem Taschengeld, obwohl er damals mit seiner Unterschrift den Erhalt bestätigt hat. Er gab auch an, mehrmals täglich über sieben Jahre sexuell missbraucht worden sein. Die Häufigkeit ist bei den damaligen Gruppengegebenheiten nur schwer nachzuvollziehen. Auch musste Detlev Zanders Anwalt eingestehen, dass Zander doch kein Abitur hat.
Andere Heimkinder stützen Zanders Aussagen. Dennoch soll nichts passiert sein?
Das sage ich nicht. Es kann sexuellen Missbrauch gegeben haben, ohne dass etwas beobachtet wurde oder erst viel später ans Tageslicht kommt. In der Jugendhilfe besteht die Schwierigkeit, dass Pädophile in ihr einen Platz suchen, wo sie ihre Abartigkeit ausleben können. Das war und wird trotz aller Präventionsmaßnahmen nicht hundertprozentig zu verhindern sein. Glücklicherweise kann heute Missbrauch im Alltag leichter aufgedeckt werden.
Inwiefern?
Heute ist man sich dieser Problematik bewusst, während diese früher auch im professionellen Bereich nicht im Blickfeld war.
Wurde die Problematik erst später erkannt und auch in der Gesellschaft thematisiert?
Weder in meiner Ausbildung zum Sonderschullehrer noch bei schulischen Fortbildungen wurde das Thema behandelt. Das änderte sich erst Ende der 1980er Jahre. Als Heimleiter habe ich dann gehandelt und die Mitarbeiter fortbilden lassen. Auch war ich bei Silberdistel, der Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt im Landkreis, im Fachbeirat tätig.
Nun, zwei Fälle kamen vor Gericht. Ein Mitarbeiter des Flattichhauses wurde im Jahr 2000 übergriffig, Anfang der 1980er Jahre ein Praktikant im Hoffmannhaus.
Ich habe beide in ihrer Arbeit als überaus engagiert und sehr positiv erlebt. Der Mitarbeiter und der Praktikant vertuschten die Übergriffe, in dem sie davon mit viel Engagement ablenkten.
Der Mitarbeiter ist erst aufgefallen, als er nicht mehr im Flattichhaus, sondern schon andernorts gearbeitet hat. Der Praktikant im Hoffmannhaus wiederum wurde im Ferienlager in Wilhelmsdorf erwischt. Haben Sie sich nicht gefragt, ob Ihnen wenigstens der Praktikant hätte auffallen müssen?
Ich habe mit dem betroffenen Kind im Flattichhaus nichts zu tun gehabt, ich war Heimleiter im Hoffmannhaus und habe das Kind auch als Lehrer in der Schule nicht erlebt. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass sich der Junge seiner Korntaler Erzieherin anvertraut hat und die Korntaler Heimleitung daraufhin Anzeige erstattete. Bei dem Praktikanten im Hoffmannhaus ist mir als Lehrer lediglich aufgefallen, dass er des Öfteren in der großen Pause mit Schülern spielte. In beiden Fällen haben die Heimleitungen reagiert und nichts zu vertuschen versucht.
Sie waren als Heimleiter vielleicht nicht nahe genug dran an den Kindern, um deren Veränderungen zu beobachten. Psychologen und Heilpädagogen aber erlebten die Kinder im Alltag – und merkten nichts? Und wenn, dann erfuhren Sie nichts davon?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass – sollten die Mitarbeiter Beobachtungen gemacht haben – sie nicht mit mir gesprochen hätten. Ich hatte immer eine offene Tür, für Mitarbeiter und Kinder.
Bezweifeln Sie nun, dass Ihre Mitarbeiter nichts gesehen haben wollen?
Ich muss davon ausgehen, dass sie tatsächlich nichts beobachtet oder geahnt haben.
Als Sie Lehrer waren, soll, so lautet ein Vorwurf der ehemaligen Heimkinder, einer ihrer Kollegen sich Kindern sexuell genähert haben.
Gerüchte über einen sehr engagierten Kollegen kamen mir einmal zu Gehör. Ich habe ohne Rücksprache mit der Schulleitung gehandelt und Kontakt aufgenommen zu einem Fachverband für Sexualität und Seelsorge. Dort wurde mir geraten, sehr vorsichtig vorzugehen und auch erst, wenn konkrete Fakten vorlägen, da man ansonsten mit einer Verleumdungsklage zu rechnen habe. Ich sprach ihn trotzdem darauf an. Er stritt alles ab. Ich habe ihn weiter beobachtet, es gab aber keine Hinweise mehr. Er ist dann wegen einer Erkrankung aus dem Schuldienst ausgeschieden und ist vor einigen Jahren verstorben.
Einem ehemaligen Hausmeister wird derselbe Vorwurf gemacht. Auch ihn kann man nicht mehr befragen, auch er lebt nicht mehr. Fiel nicht auf, wenn er mit einem Kind im Fahrradkeller verschwand?
Ich habe weder etwas beobachtet noch geahnt. Auch habe ich mit dem langjährigen Kollegen des Hausmeisters gesprochen, auch er hat nichts beobachtet. Er hätte mir das sonst gesagt, da bin ich mir sicher.
Ist also nichts geschehen, weil nichts beobachtet wurde?
Nein, das habe ich damit nicht gesagt. Ich muss aber davon ausgehen, dass wir bedauerlicherweise nichts mitbekommen haben.
Wundert Sie es nicht, dass auch die Bevölkerung schweigt? Sie kennen den Ort, leben seit fast vier Jahrzehnten hier.
Wenn entsprechende Beobachtungen gemacht worden wären, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass sich die Leute auch gemeldet hätten. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Einfluss der Brüdergemeinde im Ort so groß ist, dass es die Leute nicht wagen würden, auch Aussagen gegen die Brüdergemeinde zu machen. So weit geht der Einfluss der Brüdergemeinde nun wirklich nicht.
Sie stellen sich nun der Vergangenheit. Zugleich werfen Sie der Brüdergemeinde vor, ehemalige Mitarbeiter nicht zu schützen.
Wir ehemaligen Mitarbeiter hätten von unserem Arbeitgeber mehr Engagement in Bezug auf die Wahrheitsfindung erwartet. Vorschnell hat man mit dem Zugeständnis, Täterorganisation zu sein, Schuld eingestanden, ohne vorher ausreichend geprüft zu haben, ob die Vorwürfe auf Tatsachen beruhen oder nicht. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör ist bisher den ehemaligen Mitarbeitern nicht zugestanden worden. Wir wollen nichts verheimlichen, aber zumindest erfahren, wer wen beschuldigt und wie die Vorwürfe konkret lauten. Es ist schwierig, wenn sich beispielsweise eine Erzieherin im Internet auf einer Täterliste der Opferhilfe wiederfindet, dass sie nachweislich Mädchen missbraucht haben soll. Nach Rückfragen wurden ihr nähere Angaben mit dem Hinweis auf die Schweigepflicht verweigert. Erst als sie androhte, gerichtlich dagegen vorzugehen, wurde sie von der Liste gelöscht.
Das ist nicht das einzige Problem, das die ehemaligen Mitarbeiter mit dem bisherigen Aufarbeitungsprozess haben.
Die Erzieher stehen unter Generalverdacht, Täter oder zumindest Mitwisser zu sein. Sie haben die Schwierigkeit, dass die Berichte der Opfer nicht auf ihre Plausibilität geprüft worden sind und ihnen bis jetzt nicht die Möglichkeit gegeben wird, Stellung zu nehmen. Von der Brüdergemeinde wurde seither so gut wie nichts in Frage gestellt, so dass die Beschuldigungen ungeprüft stehen bleiben. So hat die Öffentlichkeit längst den Eindruck, die Beschuldigungen stimmten – in jedem Einzelfall.
Die Mitarbeiter hätten längst ihren Unmut äußern können, sie haben sich mehrfach getroffen. Ihnen ist es ja auch ein Anliegen, Position zu beziehen.
Das ist auch geschehen. Es wurden dabei auch die verschiedenen Positionen angesprochen, ohne dass es zu einer Übereinstimmung in der Vorgehensweise im Aufarbeitungsprozess gekommen ist.
Nun sind Sie aber an die Öffentlichkeit gegangen. Ist Ihnen der Kragen geplatzt?
Nein. Ich habe einen Leserbrief zum Bericht „Ein Ort des Schweigens“ geschrieben. Sie, Frau Kleiner, haben den Vorschlag gemacht, anstelle des Leserbriefs ein Interview zu führen und zu veröffentlichen . . .
. . . um Ihnen und Ihren Anmerkungen mehr Raum zu geben.
Wir ehemaligen Mitarbeiter haben die Schwierigkeit, dass nichts hinterfragt wird. Uns wäre eine gerichtliche Aufklärung deshalb lieber gewesen. Da wären beschuldigte Mitarbeiter nach rechtsstaatlichen Grundsätzen fair beteiligt gewesen. Wir sehen außerdem eine Schwierigkeit darin, dass es in erster Linie ums Geld geht, bevor irgendetwas geklärt ist. Auch wird nicht berücksichtigt, dass alle Betroffenen die Möglichkeit hatten, aus einem vom Bund mit den Jugendhilfeträgern eingerichteten Fonds bis zu 10 000 Euro zu beantragen. Etliche der Korntaler Betroffenen wurden dabei berücksichtigt. Deshalb ist Korntal nicht mit Regensburg, der Odenwaldschule und Ettal zu vergleichen. Es geht letztendlich um eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, damit eine echte Aufarbeitung stattfinden kann.
Sie fordern eine Differenzierung in der Diskussion über die Vorfälle in den Korntaler Kinderheimen ein?
Sexueller Missbrauch ist und bleibt zeitunabhängig ein Verbrechen. Die anderen Vorwürfe muss man im Kontext der Zeit sehen und entsprechend aufarbeiten.
Sie schwächen ab.
Nein. Wer in der Jugendhilfe arbeitet, wird mit Situationen konfrontiert, die die Mitarbeiter trotz aller fachlichen Qualifikationen fordern, manchmal sogar überfordern.
Ist Ihnen auch die Hand ausgerutscht?
Ja. Und hinterher habe ich mich gefragt, warum ich mich habe provozieren lassen.
Mit welchen Gedanken schauen Sie zurück?
Ich bereue es nicht, fast 40 Jahre lang in der Korntaler Jugendhilfe gearbeitet zu haben. Dankbar bin ich, dass nicht wenige ehemalige Heimkinder, die nicht immer mit einem leichten Lebensrucksack zu uns gekommen sind, ihr Leben meistern oder gemeistert haben.