Der weltliche Vorsteher der Pietistengemeinde, Klaus Andersen, hat sich den Fragen der Presse gestellt. Foto: factum/Granville

Ein Jahr nach dem Beginn des Aufarbeitungsprojekts in Sachen Missbrauch von Heimkindern in Korntal, hat sich die evangelische Brüdergemeinde erstmals zu Wort gemeldet. Sie spricht nun als Täterorganisation von sich.

Korntal-Münchingen - Bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde Korntal gibt es ein neues Wort: Täterorganisation. In der ersten Pressekonferenz seit dem Beginn des Aufarbeitungsprozesses hat der weltliche Vorsteher, Klaus Andersen, das Brüdergemeindewerk gleich mehrfach so bezeichnet. Und er kündigte an, den Betroffenen in Anerkennung ihres Leids bis zu je 5000 Euro bezahlen zu wollen. Dafür soll eine Stiftung gegründet werden. „In dieser wichtigen Frage müssen wir einen neuen Impuls setzen und zeigen, dass wir unsere moralische Verantwortung für die Geschehnisse annehmen.“

Die Pietisten kommen damit einer zentralen Forderung der Betroffenen nach. Diese fordern eine Wahlfreiheit zwischen Geld- und Sachleistungen, während die Brüdergemeinde seither nur Sachleistungen gewähren wollte. Ergänzend gab Andersen bekannt, die Brüdergemeinde habe dem interdisziplinären Forschungsprojekt der Landshuter Wissenschaftlerin Mechthild Wolff zugestimmt. Korntal bezahlt das Projekt. „Beide Entscheidungen gehen an die Substanz unseres Werkes“, sagte Andersen, ohne konkreter zu werden.

Seit einem Jahr läuft der Aufarbeitungsprozess unter der Leitung Wolffs. Geklärt werden soll das Ausmaß der Fälle von sexuellem Missbrauch und Gewalt, die es zwischen den 1950er bis 1990er Jahren in den Einrichtungen der Brüdergemeinde gegeben hat.

„5000 Euro sind für das, was geschehen ist, zu wenig“, sagt der Betroffene Detlev Zander. Er hatte die Vorfälle 2014 öffentlich gemacht. „Ich bin nicht zufrieden“, sagt auch Hans-Jürgen Wollschlaeger von der Zander-kritischen Arbeitsgemeinschaft Heimopfer. Neuneinhalb Jahre habe er im Kinderheim gelebt. „Jetzt werde ich abgespeist mit bis zu 5000 Euro. Das steht in keinem Verhältnis zu dem, was ich erlebt und erlitten habe.“

Wolff: Ein erster guter Schritt

Zwar folgt die Brüdergemeinde der württembergischen Landeskirche, die in der Regel in solchen Fällen 5000 Euro bereitstellt. Laut dem Missbrauchsbeauftragten des Bundes habe aber die evangelische Landeskirche Baden in Einzelfällen auch mehr bezahlt, unabhängig von therapeutischer Hilfe, für die sie bis zu 2500 Euro gibt. Weitaus mehr fließt im benachbarten Ausland. Andere Länder sind in vergleichbaren Aufarbeitungsprojekten allerdings weiter. Bis zu hunderttausend Euro werden in den Niederlanden, bis zu 25 000 Euro in Österreich bezahlt. In Deutschland gibt es laut Andersen „keine Blaupause“ für das Korntaler Projekt. Hier wird auf die Einbeziehung aller Betroffenen gesetzt. Er bat deshalb um Geduld. „Wir brauchen die Zeit, um zu Lösungen zu kommen.“

Mechthild Wolff verwundert die Verärgerung der Betroffenen nicht. „Das war zu befürchten“, sagt sie. Die Höhe der Summe will sie nicht bewerten. Doch macht sie deutlich, dass die Diskussion damit erst eröffnet sei: „Es ist ein erster guter Schritt in der Frage der Anerkennung von Leid.“

Offen ist weiterhin, ob Ulrich Weber, wie von Detlev Zander gewünscht, nun in Korntal tätig wird. Zwar hat sich der Chefaufklärer bei den Regensburger Domspatzen am Donnerstag mit Zander und Wolff zu einem Informationsgespräch getroffen. Doch vor einer Entscheidung müssten nun weitere Gespräche folgen, so Weber.

Kommentar: Die Richtung stimmt

Die physische und psychische Gewalt, die die Missbrauchsopfer einst in den Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde erlitten haben, soll nach dem Willen der Brüdergemeinde finanziell ausgeglichen werden – mit einer Summe von maximal 5000 Euro. Für die Betroffenen kommt das einer Verhöhnung ihres Schicksals gleich. Ihre Verärgerung ist verständlich, zumal in anderen Einrichtungen in vergleichbaren Fällen weitaus höhere Beträge flossen. Da mag es auch nicht befrieden, dass das Brüdergemeindewerk sich erstmals selbst offensiv als Täterorganisation bezeichnet.

Gleichwohl ist es ein großer Schritt, den die Korntaler Pietistengemeinde nun gegangen hat. Ihr Vorsteher hat erneut betont, dass es der Gemeinde ernst sei mit der Aufarbeitung. Aber anders als in der Vergangenheit ist die Brüdergemeinde nun endlich zudem bereit, für die Anerkennung des Leids eben nicht nur Sachleistungen zu gewähren, sondern Geld zu bezahlen. Dieser Forderung der Betroffenen hatte sich die Gemeinde bisher stets mit dem Hinweis auf den drohenden Verlust ihrer Gemeinnützigkeit verweigert.

Nun geht es also doch. Dies zeigt, dass kleine Schritte das große Aufarbeitungsprojekt prägen. Das erfordert weiterhin Geduld von allen Beteiligten: Den einen großen, alles befriedenden Befreiungsschlag wird es wohl nicht geben. (fk)