Selfie in Frankfurt: Umweltschutz müsse und könne auch Gewinn abwerfen, lautet Kretschmanns Mantra – das er auch in Hessen verbreitet. Foto: ari

8 Prozent, 7 Prozent, 6,5 Prozent: Kommen die Grünen in die Todeszone? Sie sehen jeder neuen Meinungsumfrage jedenfalls mit Zittern entgegen. Grund genug für Winfried Kretschmann seine Partei bei einem Wahlkampfauftritt in Hessen anzuspornen.

Frankfurt - Ein Selfie muss sein. „Das ist doch der Kretschmann!“, rufen zwei Schülerinnen, als sie den Politiker mitten in Frankfurt entdecken. Der Ministerpräsident lässt sich gerade auf dem Paul-Arnsberg-Platz die „Grünen Zimmer“ erklären, Pflanzeninstallationen, die das Stadtklima verbessern, da pirschen sich die jungen Frauen an die Gruppe heran. Und Kretschmann macht artig „Cheese“.

Politisch hält sie ja nicht viel von dem Grünen-Mann, gesteht Katharina, als er wieder weg ist. Er sei ihr „viel zu sozialistisch“. Wie auch anders? Die 21-Jährige ist bei der Jungen Alternativen, der Jugendorganisation der AfD. Ein Selfie mit ihm muss trotzdem sein.

Es wird das einzige bleiben bei diesem Besuch des Stuttgarter Regierungschefs in Frankfurt und Darmstadt. Nicht, weil sich niemand mit ihm fotografieren lassen will. Kretschmanns Wahlkampfhilfe für die hessischen Parteifreunde läuft vielmehr kammermusikalisch ab und nicht wie auf einer Rockbühne. Mal lässt er sich einen energieneutralen Wohnblock vorführen, mal besichtigt er ein nachhaltiges Gewerbegebiet. Mal erläutern ihm Wissenschaftler eines Fraunhofer-Instituts die Probleme der IT-Sicherheit, mals sitzt er Probe auf einer begrünten Parkbank.

Der Schwabe hat ein Heimspiel im hessischen Biotop

Meist sind es nur kleine Runden ohne Publikumsbegleitung, und stets ist er der „Herr Ministerpräsident“. Aber die Medien sind dabei und machen hie und da ein Interview. Davon erhoffen sich die Grünen einen größeren Werbeeffekt als von klassischem Wahlkampf.

„Der Kretschmann steht für Realpolitik, das passt zu uns Hessen“, sagt Daniela Wagner, die Vorsitzende der Landespartei. Für den Bundestag kandidiert sie in Darmstadt, wo ihr Mann Jochen Partsch Oberbürgermeister ist – ebenfalls ein Grüner. Sie kennen Kretschmann seit Jahrzehnten, ja schon aus Zeiten, da dieser Grundsatzreferent beim damaligen Landesumweltminister Joschka Fischer war. Der Schwabe hat also ein Heimspiel im hessischen Biotop – und einen guten Ruf dazu.

Bei den meisten jedenfalls. Natürlich gebe es auch ein paar Linke, die fänden seine Haltung in der Diesel-Frage gar nicht gut, räumt Wagner ein: „Manche meinen: Eigentlich darf es das Auto gar nicht geben.“ Erst dieser Tage habe ihr ein Mann geschrieben: „Ihr macht es einem echt schwer, Euch zu wählen: Jetzt ladet Ihr auch noch den Handlanger der Autoindustrie ein.“

Handlanger der Autoindustrie?

Kretschmann sei kein Handlanger der Unternehmen, hat sie ihm geantwortet, er begleite vielmehr den schwierigen Übergang zu einer modernen emissionsfreie Mobilität. Ein bisschen sei das wie bei Joschka Fischer, schmunzelt Matthias Münz, der frühere Landesgeschäftsführer der hessischen Grünen: „Viele mögen ihn, denn er hat Erfolg, aber manche eben deshalb nicht.“

„Immerhin hat Kretschmann es geschafft, Wahlen zu gewinnen“, sagt Wagner, wohl wissend, dass die Kernwählerschaft dafür nicht ausreicht. Das wollen sie auch, die hessischen Grünen. Um vielleicht irgendwann einmal selbst den Ministerpräsidenten zu stellen. In der Regierung sind sie ja schon, sie haben in Wiesbaden eine ähnliche Konstellation wie südlich des Mains. Nur dass in der Staatskanzlei kein Grüner, sondern CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier den Ton angibt. Ein Mann übrigens, mit dem Kretschmann erklärtermaßen gut kann.

Doch momentan geht es um die Macht in Berlin, und da sieht es Mau aus für die Partei. In manchen Umfragen steht sie nur bei 6,5 Prozent. Da beginnt schon die „Todeszone“, wie Wahlforscher es gnadenlos formulieren.

Neugierde auf den kantigen Mann aus dem Südwesten

Kretschmann lässt sich davon nicht beeindrucken. Beim Stichwort Wahlkampf blickt der 69-Jährige ohnehin, als wisse er mit dem Wort nichts anzufangen. „Bei solchen Terminen nehme ich immer viel Interessantes mit“, sagt er ganz unschuldig. Also hört er sich geduldig an, was ein Druckereibesitzer unter Nachhaltigkeit versteht. Oder wie die Frankfurter Aktienbaugesellschaft Wärme aus Abwasser gewinnt.

„Und Sie verdienen Geld damit?“, will er wissen und nickt zufrieden, als man ihm das bestätigt. Denn letztlich ist er damit doch bei der Bundestagswahl angelangt, denn die Grünen versuchen in ihrer Kampagne, sich als Mittler zwischen Ökonomie und Ökologie zu verkaufen („Zwischen Umwelt und Wirtschaft gehört kein Oder“). Umweltschutz müsse und könne auch Gewinn abwerfen, lautet Kretschmanns Mantra, das er auch in Hessen verbreitet.

Am Abend in Darmstadt kommt dann doch noch ein bisschen Wahlkampfatmosphäre auf. Fast 200 Leute sind ins Justus-Liebig-Haus gekommen – viele in Ehren ergraute Gründungsmitglieder der Partei, das lässt sich unschwer erkennen, aber auch einige parteilose Jugendliche, die einfach nur neugierig sind auf den kantigen Mann aus Baden-Württemberg.

Warnsignale für den Klimawandel

Der hält keine Rede, sondern lässt sich auf dem Podium zu Gott und der Welt befragen. So macht man das heute, wenn ein Ministerpräsident zu Gast ist. Das mit dem Aktivhaus in Frankfurt habe ihm „schwer imponiert“, berichtet Kretschmann von seiner Tagestour und schmeichelt den Gastgebern: „Glückwunsch Hessen, ich hab Einiges mitgenommen.“

Und dann kommt er halt doch auf die Umfragewerte zu sprechen. Der Wahlkampf sei spannend, denn jetzt gehe es darum, wer Dritter werde, sagt er und verbreitet Zuversicht: Mit ihren Kernthemen Umwelt und Klima könne die Partei durchaus noch Stimmen holen. Denn die beiden Großen hätten das bisher gar nicht angesprochen. Kuschelwahlkampf? „Grönland brennt! Mir ist nicht zum Kuscheln zumute“, ruft er und referiert ausführlich, dass auf der Eisinsel im Nordmeer ein Tundragebiet in Brand geraten ist. Das seien absolute Warnsignale für den Klimawandel. „Und wenn wir den nicht eindämmen, werden sich die Flüchtlingsströme noch ver-viel-fa-chen“, presst Kretschmann jede Silbe einzeln hervor.

Einige im Publikum schmunzeln, andere legen die Stirn in Falten oder gähnen. So spricht er also, der Mann aus dem Schwabenland. „Man braucht schon Geduld, es klingt etwas behäbig“, sagt ein älterer Mann im Aufstehen und geht vorzeitig. Andere finden das gar nicht. Kretschmanns Auftritt sei sehr gut angekommen, sagt Hildegard Förster-Heldmann, die Grünen-Fraktionschefin im Darmstadter Stadtparlament. Kretschmann passe einfach gut nach Hessen.

„Er ist überzeugend und witzig.“

Dass ihn linke Landesverbände verschmähten, nein, das glaubt die Kommunalpolitikerin nicht. Dafür sage er viel zu interessante Dinge. „Schauen Sie sich doch mal die Bundesparteitage an: Wenn er ans Pult tritt, hat er sofort die Aufmerksamkeit.“

„Ich fand ihn sehr entspannt und so gar nicht im Wahlkampfmodus“, bewertet ihn eine junger Frankfurterin anschließend. Und eine andere stimmt zu: „Er ist überzeugend und witzig.“ Vielleicht hätten die beiden ihn sogar um ein Selfie gebeten. Doch da war der Ministerpräsident schon wieder weg.