Die Prüfungskommission stellt ihre Fragen Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Immer mehr jugendliche Flüchtlinge landen allein in Stuttgart. Die Alterskommission des Jugendamts kommt drei Mal in der Woche zusammen, um das Alter von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen festzusetzen. Das dauert nur eine Stunde.

Stuttgart - Tulu K., schwarze Lederjacke über blauem Kapuzenpullover, lächelt aufgeschlossen, begrüßt die drei Mitarbeiter des Sozialamts und lässt sich auf einem der Stühle nieder. Er rückt heran an den Tisch, der in einem kargen Raum im Untergeschoss der Notaufnahme für Jugendliche steht, hält die Körperspannung und sitzt kerzengerade. Die Kaffeetassen auf dem Tisch bleiben die nächste Stunde unberührt, im Gesprächsverlauf wird wenig Zeit bleiben. Die Alterskommission hält ihre Zeitvorgabe streng ein an diesem Montagmittag. „Guten Tag, wir arbeiten für das Jugendamt und haben heute die Aufgabe, ihr Alter einzuschätzen“, sagt Peter Frey, der an diesem Tag den Vorsitz der Alterskommission innehat. Die beiden Kolleginnen neben ihm führen das Protokoll. Ihnen gegenüber, an der Seite von Tulu K., sitzt eine Dolmetscherin, Feben Makommen. Sie spricht Amharisch, die Sprache des nördlichen Zentraläthiopiens. Und Tulu K.s Sprache, der eigentlich anders heißt. Auf einem Dokument der Polizei ist ein Alter verzeichnet, dass der Äthiopier angegeben hat, als ihn die Polizei aufgriff. 1.1.1999, steht als Geburtsdatum auf dem Papier. Demnach wäre er gerade 16 Jahre alt geworden.

Die Alterskommission trifft nun ihre Einschätzung, die von dieser Angabe abweichen wird. Peter Frey und seine beiden Kolleginnen halten sich in den nächsten 60 Minuten akribisch an den Gesprächsleitfaden: Sie stellen Fragen zu den Eltern des Jungen, zu deren Arbeit, zur Heimat, Ausbildung und zur Flucht, die ihn vor einer Woche nach Stuttgart brachte. Das Amt hat keinerlei Dokumente und ist daher auf die Inaugenscheinnahme der Kommission angewiesen. „Wie alt ist Ihr Vater?“, fragt Peter Frey. Tulu K. lächelt wieder. In seiner Heimat feiere man keinen Geburtstag und daher könne er nicht mit Sicherheit sagen, wie alt sein Vater ist. „Und als was hat Ihr Vater gearbeitet?“ Als Gemüseverkäufer auf dem Markt seines Heimatortes, sagt Tulu souverän. „Und Ihr Heimatort, wie viele Menschen leben dort? Eher Hunderttausend oder eher Zehntausend“, fragt Frey. Tulu schüttelt den Kopf. Er kann oder will es nicht sagen.

Nächster Punkt des Gesprächsleitfadens: die Ausbildung. „Was war ihr Lieblingsfach in der Schule?“ Biologie. „Bis wann waren Sie in der Schule?“ Bis zur achten Klasse, sagt der junge Äthiopier. Er musste die Schule verlassen, weil der Vater sich in einer politischen Bewegung engagierte, die das ostafrikanische Land am Horn von Afrika verboten hat. Der Vater hat die Flucht ergriffen, sagt Tulu. „Wann hat er die Flucht ergriffen?“, hakt Frey nach. Im Jahr 2001, sagt Tulu. „Dann waren Sie zu diesem Zeitpunkt aber gerade einmal zwei Jahre alt – wie kann es sein, dass Sie erst dann die Schule verlassen haben?“ Die Mitarbeiter des Jugendamts wirft einen scharfen Blick auf den Jungen, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Tulu redet viel, die Dolmetscherin nickt und übersetzt dann. Die Regierung habe auch die Mutter nicht in Ruhe gelassen, daher habe sie sich entschlossen, Hals über Kopf zunächst in den Sudan und von dort aus nach Libyen zu fliehen.

Schlagartig bricht die Körperspannung von Tulu, seine Muskeln sacken ineinander zusammen und die Tränen fließen in seinen blauen Kapuzenpullover, den er sich nun vor die Augen hält. Auch der Dolmetscherin schießen Tränen in die Augen, als sie davon berichtet, dass Tulu seine Mutter das letzte Mal auf der Flucht gesehen habe. Peter Frey spielt mit dem orangenen Kugelschreiber in seiner Hand, nimmt die Reaktion zur Kenntnis und lässt Tulu Zeit, die Fassung zurückzuerlangen. „Wie lange dauerte die Flucht von Äthiopien nach Libyen?“ Fünf Tage bis nach Tripolis, sagt der Junge. In der libyschen Hauptstadt sei er in Gefechte zwischen Regierung und Islamisten geraten. Von da an lautete das Ziel Europa. „Mit was für einem Boot sind Sie nach Italien gekommen. Haben Sie Geld dafür bezahlt?“, fragt der Mitarbeiter des Sozialamts. Er erhält keine Antwort. Stattdessen erzählt Tulu, dass er in einer Stadt mit hohen Häusern angekommen sei, dass er sich in einem Haus verschanzte und drei Tage einfach nur wartete, bis ihn Schleuser ansprachen. Die brachten ihn innerhalb eines Tages mit dem Auto und vier anderen Flüchtlingen nach Stuttgart, sagt Tulu.

„Die lange Strecke in nur einem Tag?“, fragt Frey nach. Er habe viel geschlafen, kann sich an wenig erinnern, sagt der Junge. Peter Frey blickt auf die Wanduhr. Die Stunde ist beinahe abgelaufen. „Wir bitten Sie nun, den Raum zu verlassen, damit wir uns beraten können“, sagt Frey. Die Tür schließt und die drei Mitarbeiter des Jugendamts reden Klartext. Ihr Urteil: Einiges an der Geschichte klingt nicht schlüssig. Wie soll die Reise ohne Geld erfolgt sein? Unter welchen Umständen hat er genau seine Mutter verloren? Auch der Bartwuchs, bemerkt Frey, wirke für einen knapp 16-Jährigen unglaubhaft stark. Ebenso spricht das selbstbewusste Auftreten, die Körpersprache für ein höheres Alter. Peter Frey notiert auf dem Behörden-Dokument vor sich: „Macht äußerlich nicht den Eindruck eines 16-Jährigen. Sein Verhalten wirkt erwachsener.“ Er trägt als Geburtsdatum den 1.1.1997 ein. Damit kann Tulu einen Antrag auf Hilfe für junge Volljährige stellen, bis er 21 Jahre alt wird. Das Jugendamt unterstützt ihn fortan. Der Jugendamts-Mitarbeiter Frey blickt erneut auf die Uhr. Es wird Zeit. Kurz nach 14 Uhr, der nächste minderjährige Flüchtling betritt den Raum. Und die Kommission eröffnet das nächste Gespräch: „Guten Tag, wir arbeiten für das Jugendamt und wir haben die Aufgabe, ihr Alter einzuschätzen.“