Schönes neues Milaneo Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Mit der Eröffnung der beiden Shopping-Tempel Milaneo und Gerber hat sich in der Einkaufswelt von Stuttgart einiges verändert. Aber durch beide Center droht kein Untergang des Abendlandes. Keine Verödung der Handelsstruktur in der Innenstadt, findet Martin Haar.

Stuttgart - Die Menschen entdecken sich in ihren Waren wieder, sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger. Der Satz stammt vom Philosophen Herbert Marcuse. Er ist aus dem Buch „Der eindimensionale Mensch“. Marcuse urteilt diese Gesellschaft als obszön ab, weil sie einen erstickenden Überfluss an Waren produziere und diese schamlos zur Schau stelle. Was vor 50 Jahren chic war, hat bis heute Anziehungskraft. Im Zeichen eines entfesselten Konsumrauschs in den neuen Stuttgarter Konsumtempeln mehr denn je. Mancher Kulturpessimist nennt sie „Müllaneo“ und „Berber“. Aber das ist, um im Sprachbild Marcuses zu bleiben, eine sehr eindimensionale Perspektive.

Durch beide Center droht kein Untergang des Abendlandes. Keine Verödung der Handelsstruktur in der Innenstadt. Und keine Versklavung von Menschen, für die jene eine große Anziehungskraft haben. Mehr Wahrheit steckt in der tiefen Sorge von Stadtdekan Christian Hermes. Er warnt davor, dem Glück allein auf diese materialistische Weise hinterherzulaufen. Und es stimmt ihn traurig, dass die Primark-Kinder diesem Konsumdruck wehrlos ausgeliefert seien. Aber er unterscheidet nicht in klug oder dumm. In gute Menschen, die im Fair-Trade-Laden einkaufen. Oder in dumpfe, die ins Milaneo rennen.

Es ist unnötig zu spalten. Oder einem der jeweiligen Angeboten die Daseinsberechtigung abzusprechen. Es ist auch nicht notwendig. Denn die üblen Szenerien, die vor der Eröffnung skizziert wurden, haben sich bisher nicht bewahrheitet. Gut, die Anwohner des Milaneo hatte die Stadtverwaltung zunächst überhaupt nicht auf der Rechnung. Auch die restriktive Haltung des Gemeinderats bei der Milaneo-Parkhaus-Planung war kurzsichtig. Nun muss nachgebessert werden.

Viel pragmatischer haben sich die meisten Händler in der City auf die neue Konkurrenz eingestellt. Wenn man so will, haben sie die neue Herausforderung angenommen. Sie hat der Wettbewerb noch stärker gemacht. Die zehn Traditionsfirmen, die sich zur Platzhirsch-Initiative zusammengeschlossen haben, sind ein Beispiel dafür. Ebenso wie die Unternehmen Haufler am Markt oder Foto Hirrlinger, die nicht entsprechend auf den Wandel im Handel reagiert haben. Im ersten romantischen Reflex wird man deren Aus bedauern. Aber bei nüchterner Analyse auch verstehen, dass hier kein böser Filialist oder der Internethändler die Verantwortung für das Ende dieser Traditionsfirmen trägt.

Betrachtet man die Lage also in all ihren Dimensionen, wird klar: Manches hat Stuttgart durch die Veränderungen verloren. Beide Konsumklötze versprühen keinen urbanen Charme. Und sie produzieren mehr Verkehr. Aber nach der ersten Bilanz steht auch fest: Es gibt mehr Gewinner als Verlierer. Die gegenseitige Kannibalisierung hat nicht stattgefunden. Stuttgart, das sich mit seinen weichen und harten Standortfaktoren mit anderen Großstädten messen lassen muss, hat an Attraktivität gewonnen.