Alltag an den Hochschulen im Land: Das Interesse am Medizinstudium ist groß, Experten fordern deutlich mehr Studienplätze, um den Ärztebedarf der Zukunft abdecken zu können Foto: dpa-Zentralbild

Was für ein verkehrtes System. Einerseits gehen in Deutschland die Ärzte aus, andererseits können junge Talente wegen veralteter Regeln nicht Medizin studieren. Der Fall eines jungen Mannes aus Schorndorf, der in seiner Verzweiflung einen ungewöhnlichen Weg geht.

Stuttgart - Es ist nicht so, dass Fabian Lorenz im weißen Kittel ins Bett geht und auf dem Nachttisch das OP-Besteck liegt. Aber der 19-Jährige hat in den vergangenen Monaten nicht nur einmal davon geträumt, Arzt zu sein. „Es ist mein Traumberuf. Ich will das werden“, sagt er mit entschlossener Stimme. Allein, je länger der verzweifelte Kampf um einen Studienplatz dauert, je mehr Bewerbungen er an die Universitäten im In- und Ausland schickt und immer wieder Absagen erhält, je öfter er gegen Betonmauern aus Bürokratie rennt und man ihm ins Gesicht sagt, dass sein Abitursschnitt von 1,9 viel zu schlecht ist, desto mehr verliert er den Glauben an das Fortschrittsland Deutschland. „Wir sind schockiert, wie schwer man es jungen Leuten macht, einen Studienplatz in Medizin zu finden“, sagt seine Mutter. Und er selbst fügt hinzu, alle diese Schwierigkeiten, diese Hürden, das habe man in der Schule nie erfahren: „Man macht sein Abitur, verlässt mit großen Erwartungen die Schule und will studieren.“

Doch daraus wird bei Fabian Lorenz derzeit nichts. Der Hauptgrund: Für das Medizinstudium gibt es einen Numerus clausus von 1,0. Wer eine schlechtere Abi-Note mitbringt, hat schlechte Karten. Zwar vergeben die Universitäten die Studienplätze in der Regel nach drei Kriterien: 20 Prozent gemäß der Abi-Note, 20 Prozent nach der Wartezeit und 60 Prozent über das individuelle Auswahlverfahren der Hochschule. In der Praxis überstrahlt der Schulabschluss aber alles. „Der Abi-Note wird noch immer eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen. Soziale Faktoren spielen eine zu geringe Rolle“, beklagt Hans-Jörg Freese, Sprecher des Marburger Bunds.

Schon beim Bogy-Praktikum zum Hausarzt

Genau das hat Fabian Lorenz zuletzt immer wieder zu spüren bekommen. Seit Jahren will er nichts anderes werden als Arzt. Also machte er zur Schulzeit sein Bogy-Praktikum bei einem Hausarzt. „Ich war begeistert“, erinnert er sich. Und so entschied er sich nach dem Ende der Schulzeit zu einem Jahr Bundesfreiwilligendienst im Krankenhaus. „Ich wollte wissen, ob ich Blut sehen kann.“ Er bekam einen Platz in der Gefäßchirurgie am Katharinen-Hospital in Stuttgart. „Ein Riesenglück“ sei das gewesen, ab dem ersten Tag habe er überall dabei sein dürfen, sein erster Praxis-Test fürs ganz persönliche Durchhaltevermögen war eine Halsschlagader-OP. „Ich stand einen Meter weg und war total fasziniert.“

So ging es weiter. Er assistierte den Ärzten, analysierte für die Chefs die Eingriffe aus ökonomischer Sicht, half, wo immer es ging. Überstunden, für ihn war das eine Auszeichnung. Wenn es denn mal eine Pause gab, erzählte er den erfahrenen Medizinern von seiner vergeblichen Suche nach einem Studienplatz und den Hürden. Der Ärztliche Direktor, Prof. Dr. Thomas Hupp, schüttelte entsetzt den Kopf. Und so wurde das Zeugnis des Klinikums nach einem Jahr für Lorenz eigentlich zu einer Art Freifahrschein direkt ins Medizinstudium. Lorenz habe sich durch „wesentliche und über das Maß erforderliche Aktivitäten“ einen Namen gemacht, heißt es da. Er sei zu einem „sehr wertvollen, fast unersetzlichen Mitarbeiter“ geworden, er habe „die wissenschaftliche Recherche erstaunlich präzise und sehr genau erstellt“, und, und, und. Hupp beließ es in seinem Zeugnis aber nicht nur beim Lob, er äußerte auch deutliche Kritik an den Rahmenbedingungen, die von der Politik gesetzt werden. „Dass solch ein sympathischer, hochengagierter junger Mann, der ‚nur‘ eine Abiturnote von 1,9 erreicht hat, dass der in unserem Medizinausbildungssystem nicht zugelassen wird, ist ein Vergehen an der geistigen Ressource.“ Aus seiner Sicht, so Hupp, sei „Herr Lorenz absolut geeignet für den Beruf des Arztes“.

Numerus clausus ist keine Garantie für einen guten Arzt

Die Aussage hätte der renommierte Medizin-Professor gleich mit freundlichen Grüßen an Wissenschaftsministerin Theresia Bauer schicken können. Die Grünen-Politikerin hatte sich vor wenigen Wochen vehement gegen Forderungen von Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) und der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg gewehrt, man müsse die Zulassungsvoraussetzungen für das Medizinstudium dringend reformieren. „Ein 1,0-Abitur heißt noch nicht, dass das ein guter Arzt wird“, hatte Altpeter bei der Gesprächsreihe „Dunkle Wälder – Bunte Perspektiven“ in Baiersbronn gesagt und mit Blick auf den wachsenden Mangel an Ärzten gerade auf dem Land händeringend um Korrekturen geworben. Es sei keine Lösung, so Altpeter, einerseits zu klagen, dass immer mehr Arztpraxen schließen, weil sie keinen Nachfolger finden, andererseits aber am starren Auswahlsystem der Vergangenheit festzuhalten.

Altpeter erhielt Unterstützung aus allen Winkeln des Landes. Nur nicht von ihrer Kabinettskollegin Bauer. Die Praxis der gültigen Auswahlverfahren habe gezeigt, so die Grünen-Politikerin, „dass es derzeit keinen Anlass gibt, Änderungen herbeizuführen“. Doch je länger die Diskussion dauert, je mehr E-Mails im Sozialministerium eintrudeln, desto größer wird der Druck, dass es offenbar doch Korrekturbedarf gibt. „500 Hausarztpraxen in Baden-Württemberg werden in den nächsten fünf Jahren nicht mehr zu besetzen sein“, sagt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Stuttgart. „Wir brauchen viel mehr junge Ärzte, weil gerade Frauen in Teilzeit arbeiten wollen, weil vielen Jungmedizinern das wirtschaftliche Risiko einer eigenen Praxis zu groß geworden ist und der Hausarzt nicht mehr sieben Tage rund um die Uhr verfügbar sein will.“ Auch vom Marburger Bund erhält Sozialministerin Altpeter volle Rückendeckung. Da komme eine „absehbare Ruhestandswelle“, meint Sprecher Freese. Man müsse die Zahl der Studienplätze bundesweit um „mindestens zehn Prozent erhöhen“. Und vor allem: „Es gibt berechtigte Zweifel an der Art, wie die Studienplätze vergeben werden“. Dem Numerus clausus werde „eine viel zu große Bedeutung eingeräumt“. Zwar sei die Abiturnote „nicht verzichtbar“, aber es sei nicht belegt, „dass sie der einzige verlässliche und objektive Indikator für den Studienerfolg ist“. Stattdessen müsse es verstärkt Auswahlgespräche durch die Hochschulen geben, zudem sollten Praktika stärker gewichtet werden. Kein Wunder, dass Experten wie Freese hoffen, dass die Große Koalition in Berlin wie geplant nun im neuen Jahr den angekündigten „Masterplan Medizinstudium 2020“ auf den Weg bringt und erste Reformschritte geht.

Sieben Jahre warten auf einen Studienplatz

Für Fabian Lorenz ist das alles Wasser auf seine Mühlen. Er beendet in diesen Tagen ein Pflegepraktikum, das er im Zweifel für das Medizinstudium braucht. Er paukt jetzt mal wieder auf einen Medizinertest, diesmal in Österreich. Und er hofft auf die Petition, die er mit seinen Eltern beim Landtag in Stuttgart eingelegt hat, um auf die Probleme bei der Studienplatzfindung hinzuweisen.

Lorenz versteht nicht, warum das Zeugnis von Hupp nirgendwo anerkannt wird „Was soll ich denn noch alles machen“, sagt er fast verzweifelt. So muss er sich weiter in Geduld üben. Auf den Wartelisten der Unis steht er irgendwo zwischen den Plätzen 2700 und 3500, im extremen Fall muss er sieben Jahre auf sein ersehntes Medizinstudium warten. Natürlich kann er auf das Glück im Losverfahren hoffen. Ein Studium im Ausland jedenfalls scheidet aus. 100 000 Euro seien mindestens nötig. „Das können wir nicht zahlen“, sagen die Eltern. Der Vater ist Betriebsseelsorger, die Mutter Sozialpädagogin. So bleibt dem jungen Mann nur ein kleiner Trost. Das Zeugnis von Professor Hupp schließt mit einem viel versprechenden Satz: „Wenn Herr Lorenz sein Medizinstudium abgeschlossen hat, würde ich ihn sehr gerne als Assistent in meiner Klinik anstellen.“ Es darf also weiter geträumt werden.