Stundenlanges Fernsehen ist ungesund – auch wenn dort gerade ein Sportereignis übertragen wird. Foto: Colourbox

Nicht nur Freunde von TV-Serien sitzen oft stundenlang vor dem Bildschirm – und ­gefährden damit ihre Gesundheit. Wissenschaftler empfehlen deshalb regelmäßige Bewegungspausen.

Stuttgart - Fans von TV-Serien wie „Breaking Bad“ sehen sich oft gleich mehrere Folgen hintereinander an. Bei diesem sogenannten Binge Watching – abgeleitet vom englischen Wort Binge, das für ein Gelage steht – sitzen die Konsumenten oft stundenlange vor der Kiste – mit negativen Folgen für die Gesundheit. Denn wer pausenlos sitzt, bekommt leichter Blutgerinnsel, die ein Blutgefäß der Lunge verstopfen können. Diese sogenannte Lungenembolie kündigt sich durch Brustschmerzen und Kurzatmigkeit an.

Bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert haben japanische Forscher festgestellt, dass Probanden, die täglich fünf Stunden oder länger vor dem Fernseher saßen, ein doppelt so hohes Risiko hatten, in den nachfolgenden 19 Jahren an einer Lungenembolie zu sterben als Probanden, die weniger als zweieinhalb Stunden am Tag vor der Glotze saßen. Die Wissenschaftler hatten die Fernsehgewohnheiten von 86 000 Personen zwischen 40 und 79 Jahren untersucht. Die Daten wurden in den Jahren 1988 bis 1990 erhoben – zu einer Zeit, in der Computer längst nicht so verbreitet waren wie heute und Tablets oder Smartphones noch gar kein Thema.

Zwei zusätzliche Stunden Fernsehen pro Tag sollen den Ergebnissen zufolge das Risiko einer Lungenembolie um 40 Prozent erhöhen. Wer also dem „Binge Watching“ frönt und täglich vier bis fünf Stunden lang TV konsumiert, hat im Vergleich zu Personen, die höchstens halb so lange fernsehen, ein doppelt so hohes Risiko, im Laufe der nächsten 19 Jahre zu versterben. Die Zahl der Betroffenen ist aber relativ klein: Von den 86 000 Probanden erlitten insgesamt nur 59 eine tödliche Embolie. Tatsächlich könnte das Risiko aber deutlich höher sein, warnen Experten.

Risiken wie auf einem Langstreckenflug

„Binge Watching“ ist vergleichbar mit stundenlangem Sitzen von Fernreisenden im Flugzeug. Das Risiko, dass sich kleine Blutgerinnsel bilden, ist auch hier erhöht. Der federführende Studienautor Hiroyasu Iso empfiehlt deshalb: „Nach etwa einer Stunde aufstehen, sich strecken, umhergehen oder während des Fernsehschauens regelmäßig für fünf Minuten die Beinmuskeln abwechselnd anspannen und wieder entspannen. Und Wasser trinken.“ Der Sportwissenschaftler Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule in Köln sieht das genauso: Nur aktive, das heißt sich kontrahierende Muskulatur schüttet nach seinen Worten sogenannte Myokine aus – hormonähnliche Botenstoffe, die unter anderem Entzündungen entgegenwirken.

Langes Sitzen erhöht dagegen das Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und Krebs. „Wir propagieren schon lange, dass täglich mehr körperliche Aktivität sehr wichtig ist“, sagt Klaus-Michael Braumann, Leiter des Instituts für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP). Solange jemand sitzt, wird seine Muskulatur nicht beansprucht, weshalb auch keine gesundheitsförderlichen Botenstoffe ausgeschüttet werden. Sitzorgien wirken sich aber auch anderweitig negativ aus. Viele Körperfunktionen lassen laut Froböse einfach nach. Muskeln werden nicht mehr ausreichend durchblutet, der Stoffwechsel verlangsamt sich, die Zellen sind unterversorgt, die Blutzuckerwerte steigen an. All das macht auf Dauer krank.

Eine aktuell im britischen Fachmagazin „Lancet“ publizierte Studie kam zu dem Ergebnis, dass eine Stunde Bewegung am Tag – beispielsweise zügiges Gehen (5,6 km/h) oder gemütliches Radfahren (16 km/h) – acht Stunden Sitzen pro Tag aufwiegen kann. Ulf Ekelund von der University of Cambridge und sein Team analysierten die Daten von mehr als einer Million Menschen weltweit, die an 16 Studien beteiligt waren. Während der Nachbeobachtungszeit von zwei bis 18 Jahren verstarben fast 85 000 Teilnehmer. Dabei zeigte sich, dass die Probanden mit der meisten Bewegung und der kürzesten Sitzdauer ein um 59 Prozent geringeres Sterberisiko haben als jene, die am wenigsten Sport trieben und die längsten Sitzzeiten (täglich rund acht Stunden) hatten. Die Forscher halten den Effekt des Bewegungsmangels für ähnlich stark wie den von Rauchen und Übergewicht.

Selbst eine Stunde Sport am Tag ist den meisten zu viel

Froböse sieht die Studie eher kritisch: „Das Ergebnis dieser Studie beschränkt sich ganz auf die Mortalität. Die Untersuchung lässt völlig unberücksichtigt, dass durch stundenlanges Sitzen verursachte Veränderungen im Körper wie ein Abbau der Muskulatur und ein langsam entgleisender Zuckerstoffwechsel stattgefunden haben.“ Diese Veränderungen seien zwar noch nicht krankhaft, könnten sich aber im weiteren Verlauf sehr negativ auswirken.

Abendliches Sporttreiben reiche nicht zum Ausgleich, denn es könne die Stoffwechselquote nicht ausreichend nach oben treiben, sagt Froböse. Er verweist auf den jüngst veröffentlichten Report der Krankenversicherung DKV „Wie gesund lebt Deutschland?“. Demnach haben nur 2,3 Prozent der Deutschen eine ausreichende Bewegungsaktivität von täglich 60 bis 70 Minuten. Deshalb gehe die Empfehlung der Forscher aus Cambridge an der Realität vorbei. Braumann findet: „Eine Stunde Sport nach acht Stunden Sitzen ist durchaus gut. Aber leider machen viele Betroffene das nicht.“ Wichtig sei zudem, ausreichend Kalorien zu verbrennen. Bereits 1978 habe eine Untersuchung gezeigt, dass der Verbrauch von täglich 300 Kilokalorien durch Bewegung das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen halbieren kann.

Froböse empfiehlt, alle 90 bis 120 Minuten das Sitzen zu unterbrechen und sich körperlich zu betätigen. „Diese Aktivitätsportionen sollen dazu dienen, den Stoffwechsel hochzufahren. Eine sehr gute Trainingsstätte für zwischendurch ist das Treppenhaus“, sagt der Sportwissenschaftler. Allerdings sollte man schon ein paar Etagen bewältigen. Sonst ändert sich die Atemfrequenz nicht und das Herz-Kreislauf-System wird nicht aktiviert. Andererseits muss man nicht gleich ins Schwitzen kommen und außer Atem geraten.

Der Rat der Experten für den Alltag: Zwischendurch jede Gelegenheit nutzen, sich zu bewegen, und am besten auch abends noch längere Zeit aktiv sein. Dann ist man auf der sicheren Seite.

Warum Bewegung oft die beste Medizin ist.

Botenstoffe Bei der Bewegung der Muskeln werden Myokine freigesetzt. Diese Botenstoffe hemmen Entzündungen, stärken die Knochen und tragen zur Nervenregeneration bei. Sie beeinflussen auch die Psyche des Sporttreibenden positiv. Zudem haben sie Einfluss auf die innere Zellauskleidung der Blutgefäße und die Entwicklung von braunem statt weißem Fettgewebe. Myokine können auch das Immunsystem modulieren und stärken.

Genetik Körperliche Aktivität beeinflusst die Steuerung der Gene und kann das Ablesen oder Abschalten einzelner Erbinformationen beeinflussen. Dadurch verändert sich unter anderem die Eiweißproduktion der Zellen. Auch der Kohlehydratstoffwechsel wird beeinflusst.

Zellkraftwerke Bei Ausdauersportarten wird ein spezielles Myokin ausgeschüttet, das die Bildung neuer Zellkraftwerke – der sogenannten Mitochondrien – angeregt. In ihnen werden Zucker und Sauerstoff in Energie umgewandelt. Das macht den Muskel leistungsfähiger. Außerdem soll das betreffende Myokin dem Abbau von Muskelzellen entgegenwirken.