Maurizio Pollini Foto: Philippe Gontier

Gelassener, ja altersmilde ist Maurizio Pollini im Beethovensaal aufgetreten, wo er Schönberg, Chopin und Debussy gespielt hat.

Stuttgart - Es war einmal ein Feuer da – früher, in den 60er Jahren, als der junge Maurizio Pollini, technisch damals einer der besten seiner Zunft, die Klassikwelt mit einer entflammten Darbietung von Chopins Etüden hinriss. Im Zuge seiner Beschäftigung mit moderner und zeitgenössischer Klaviermusik ist der italienische Pianist nüchterner geworden, was ihm teils zum Vorteil (bei Beethoven und Boulez), teils auch zum Nachteil (bei Chopin) gereichte. Jetzt ist Pollini 74, und als er am Dienstagabend auf dem Weg zum Flügel über die Bühne des Beethovensaal schreitet, lassen seine Mimik und seine Körperhaltung die Mühe, vielleicht auch die Schmerzen vermuten, die ihm dieser Gang bereitet. Schönbergs sechs Klavierstücke op. 19 wirken deshalb wie Balsam auf die Seele des Publikums, denn Pollini spielt sie mit weichem Anschlag: als poetische Miniaturen, die weniger nach dem Zukunftspotenzial dieser freitonalen Musik fragen als nach Wurzeln und Herkunft.

Frei klingt das, gelöst, und erst, als es bei Chopin in ähnlichem Duktus weitergeht, stellt sich etwas Unentschiedenes ein. Ist das, was wir da dynamisch und gestalterisch so verhalten hören, als werde es mit permanenter Dämpfung gespielt, nun gelassen, altersmilde, introvertiert, abgeklärt – oder zeugt es von dem sich verengenden Fokus und von dem nachlassenden Interesse eines alten Mannes, der vitales Erleben durch melancholische Erinnerung ersetzt? In jedem Fall ist, was Pollini spielt, sehr anders: ein extremer Gegenentwurf zu vielen stürmenden, drängenden Jungvirtuosen, die heute, um unter viel zu vielen Konkurrenten aufzufallen, klassische Klavierstücke gerne zwischen weit voneinander entfernten Kontrasten aufspannen, aus jeder Synkope ein Erdbeben und aus manchem Nötchen ein Klang-Event machen. Schon deshalb ist Maurizio Pollinis Klavierabend eine Ereignis: weil er ihn so wenig als Ereignis zelebriert. Weil nichts Künstliches da ist. Pollini ist auf berückende Weise altmodisch.

Noten fehlen, Strukturen zerbröseln – und das Ergebnis bezaubert doch

Dabei kann man durchaus das Fehlen mancher Noten bemerken. Zuweilen hört man (etwa in Chopins erstem Scherzo), wie Strukturen zerbröseln. Auch die Finger des Pianisten sind träger, unsicherer geworden; bei der zweiten Zugabe, Chopins erster Ballade, gelangt die rechte Hand ausgerechnet beim Schlusston ins falsche Ziel. Das nimmt man hin, denn so viel mehr trägt man am Ende mit nach Hause – vor allem nachdem man noch bei den Préludes aus Debussys zweitem Heft Momente feinsten Klangfarbenspiels erleben durfte. Hier ist Maurizio Pollini in seinem Element, und die Musik leuchtet unter seinem präzisen, pragmatischen Zugriff wie bunte Blätter bei einfallender Herbstsonne. Abende wie diesen, Pianisten wie diesen, dessen letztes Stuttgarter Konzert man womöglich hier erleben durfte, muss man im Herzen bewahren, denn der Winter wird kommen.