Juristisch gesehen darf niemand in Deutschland zu einer Immunisierung gezwungen werden – selbst dann nicht, um Dritte zu schützen. Ein Piks einer Impfinjektion gilt daher als Körperverletzung, die nur durch eine vertragliche Absprache zwischen Arzt und Patient legitimiert wird. Foto: dpa

Mit interaktiver Grafik - Berlin erlebt derzeit einen schweren Ausbruch der Masern, ein Kind ist daran gestorben. Dabei gibt es seit Jahrzehnten eine Impfung. Die soll nach Ansicht von Politikern zur Pflicht werden. Doch Experten warnen: Nicht die Impfmüdigkeit, sondern vor allem Unwissenheit verhindert eine masernfreie Republik

Berlin/Stuttgart - Es wäre so einfach. Ein Piks, ein kurzer Schmerz – und schon wäre es vollbracht: Der Beitrag zu einem masernfreien Deutschland. Ein Ziel, dass sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für dieses Jahr gesetzt hat – und garantiert nicht erreichen wird: Während Staaten wie die skandinavischen Länder das Virus praktisch eliminiert haben, gehört die Bundesrepublik zu den Ländern, in denen Masern noch häufig vorkommen – weil sich zu wenig Bundesbürger dagegen haben impfen lassen.

So schwankt die Zahl der Masern-Fälle in Deutschland seit Jahren stark: Wurden dem Robert-Koch-Institut im Jahr 2012 noch 216 Fälle gemeldet, waren es 2013 schon 1773 Masern-Erkrankungen. Derzeit gibt es wieder einen ungewöhnlich großen Ausbruch: So sind allein in Berlin seit vergangenen Oktober schon mehr als 570 Fälle gemeldet worden. Ein eineinhalbjähriger Junge ist bereits an der Virusinfektion gestorben. Eine Schule wurde vorsorglich geschlossen. Derartige Ereignisse führen derzeit zu einer politischen Grundsatzdebatte über die Impfpolitik.

 

Grafik: So verbreiten sich Masern

Derzeit sind in Deutschland 92 Prozent aller Kinder gegen die Masern geimpft. Die Impfquote variiert allerdings von Bundesland zu Bundesland. Manche Gebiete wie etwa das Saarland oder Mecklenburg-Vorpommern ist das Virus so gut wie eliminiert. In Baden-Württemberg und Bayern sind die Impflücken dagegen am größten. Nach Angaben des Regierungspräsidiums Stuttgart waren nur 88,8 Prozent der Kinder zum Zeitpunkt der Einschulungsuntersuchungen 2013/2014 zweimal gegen Masern geimpft.

Zwei von tausend Masern-Fälle enden tödlich

Unter Wissenschaftlern gilt das Für und Wider der Masernimpfung als lange ausdiskutiert. Zwar gibt es immer wieder Einzelfallberichte über schwere Impfschäden – doch diese seien so extrem selten, dass sie nicht rechtfertigen, auf einen Impfschutz der Bevölkerung zu verzichten. Auch die Krankheit selbst übersteht der Patient meist ohne Komplikationen. Aber: „Da das Immunsystem mehrere Wochen geschwächt ist, haben es andere Erreger in dieser Zeit einfacher“, sagt die Sprecherin des Robert-Koch-Instituts (RKI), Susanne Glasmacher. Deshalb kann es infolge der Erkrankung etwa zu einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung kommen. Zwei von tausend Masern-Fälle enden tödlich.

Angesichts des aktuellen Masern-Ausbruchs heizen jedoch nun die Gesundheitspolitiker die Diskussion noch an: Schon Ende vergangener Woche hatte der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) deshalb Impfgegner angegriffen und dringend dazu geraten, den Impfstatus überprüfen zu lassen und die empfohlenen Impfungen nachzuholen. Inzwischen ist ein Präventionsgesetz geplant, wonach Eltern künftig vor einer Kita-Aufnahme ihrer Kinder eine ärztliche Impfberatung nachweisen müssen. Wenn allerdings die Impfbereitschaft nicht steige, so äußerte sich der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, „muss eine Impfpflicht für Kleinkinder der nächste Schritt sein“.

Eine extreme Maßnahme, die bislang nicht nur von der politischen Opposition wie den Grünen abgelehnt wird, sondern auch von Experten: „Eine generelle Impfpflicht wird sich wegen der Widerstände in der Bevölkerung nicht durchsetzen lassen“, sagte der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Wolfram Hartmann. Hinzu kommt die fehlende rechtliche Grundlage: Juristisch gesehen darf niemand in Deutschland zu einer Immunisierung gezwungen werden – selbst dann nicht, um Dritte zu schützen. Ein Piks einer Impfinjektion gilt daher als Körperverletzung, die nur durch eine vertragliche Absprache zwischen Arzt und Patient legitimiert wird.

Auch das RKI setzt lieber auf bereits bestehende Empfehlungen: „Natürlich könnte der Impfschutz bei Kleinkindern noch besser sein“, sagt die RKI-Sprecherin Glasmacher. Auch werden die Kinder oft zu spät geimpft, was man gerade an den Erkrankungszahlen bei den Zweijährigen erkennen könne. Grundsätzlich sei in der Bevölkerung die Bereitschaft zum Impfen da.

Experten raten allen, die nach 1970 geboren sind, zur Masernimpfung

Statt der Impfmüdigkeit ist es eher die Unwissenheit der Bundesbürger, die ein masernfreies Deutschland verhindert: So zeigt die Erkrankungsrate bei den Kindern unter zwölf Monaten, dass der Herdenschutz seitens der Bevölkerung nicht ausreicht. Nur wenn genügend Erwachsene immunisiert wären, könnte man eine Ausbreitung der Masern bei Kleinkindern verhindern, die aus verschiedenen Gründen nicht oder noch nicht geimpft werden können. Das Problem sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie fallen in die Gruppe, die laut Glasmacher vor 15 bis 20 Jahren nicht geimpft wurden, weil die Masern damals nach einer großen Immunisierungswelle in den 1970er Jahren so selten aufgetreten sind, dass Eltern es nicht mehr für nötig hielten, ihre Kinder vor dem Virus zu schützen. Schon jetzt rät daher die Ständige Impfkommission (Stiko) am RKI all jenen, die nach 1970 geboren sind, zur Masernimpfung – sofern sie nur einmal oder gar nicht geimpft worden sind oder der Impfstatus unklar ist. Ansonsten befürchtet das RKI, dass Erkrankungen bei Säuglingen wegen fehlender schützender mütterlicher Antikörper zunehmen werden.