Berthold Leibinger hat den 11.000-Mitarbeiter-Maschinenbauer Foto: factum/Bach

Er hat aus der Kleinfirma Trumpf einen High-Tech-Weltmarktführer im Maschinenbau geformt. Heute wird Berthold Leibinger 85 Jahre alt. Über Kritik am Pietismus, Heißhunger auf Brezeln und seine Faszination für brotlose Künste redet er eigentlich nicht so oft. Im Interview mit den „Stuttgarter Nachrichten“ macht er eine Ausnahme.

Herr Leibinger, kurz vor Weihnachten ist vielen Menschen nicht nach Feiern zumute. Die Welt ist in Aufruhr. Wie empfindet das jemand, der mit 85 Jahren auf ein überaus unruhiges Jahrhundert zurückblickt?
Ich sehe die derzeitigen Entwicklungen insgesamt noch mit einer gewissen Gelassenheit und fühle ich mich persönlich sicherer, als es die Medienlage widerspiegelt. Ich war beispielsweise gerade eine Woche mit meiner Frau in Israel und habe dort wenig Verunsicherung gespürt, obwohl die Menschen sicher Anlass dazu hätten. Ohne das Leid der Menschen schmälern zu wollen, etwa im Zusammenhang mit den schrecklichen Anschlägen in Paris oder der Flüchtlingsproblematik, würde ich doch sagen, dass wir in Deutschland in diesem Jahrhundert schon schwierigere Zeiten hatten.
Wann?
Als der Krieg zu Ende ging, war ich 14 Jahre alt. Zwölf Millionen Menschen waren auf der Flucht, ganze Städte lagen in Schutt und Asche. Unser Haus in Korntal war zur Hälfte zerstört, unsere kleine Kunsthandlung ebenfalls und damit auch unsere Existenz. Das war damals ein ganz normales Schicksal. Von einer solchen Situation sind wir heute gottlob weit entfernt. Das Gros der Bevölkerung ist von der aktuellen Flüchtlingsthematik im Alltag unberührt, übrigens ebenso wie von einer terroristischen Bedrohung. Wir sollten daher wachsam sein, uns als Gesellschaft aber nicht verunsichern lassen.
Vor vier Jahren haben Sie Ihre Memoiren mit dem Titel „Wer wollte eine andere Zeit als diese“ überschrieben. Gilt das heute noch?
In der Rückschau wahrscheinlich schon. Als 1930 Geborener habe ich die Nazi-Herrschaft, den Krieg, den Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder und dessen Infragestellung durch die 68er-Generation erlebt. In den 1990ern war Deutschland der kranke Mann Europas. Jede Zeit hat ihre besonderen Herausforderungen. Mir fällt allerdings auf, dass sich unsere Gesellschaft früher viel stärker an gemeinschaftlichen Werten orientierte. Heute regieren der Individualismus und auch der Eigennutz. Allein um unserer selbst willen sind wir aber nicht auf der Welt. Wir haben auch Ziele, die wir nur als Gruppe verwirklichen können. Diese Art von Gemeinschaftssinn vermisse ich heute bisweilen.
Was bedeutet das für unsere Zukunft?
Eine der spannendsten Fragen ist aus meiner Sicht, wie wir in unserem Streben nach Wohlstand die Saturiertheit vermeiden. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wach, neugierig und umtriebig zu bleiben? Das ist ein vielfach ungelöstes Problem. Wahrscheinlich sind es die alten Tugenden, die dabei noch immer gefragt sind: Fleiß, Bescheidenheit, Konzentration und nicht zuletzt auch Opferbereitschaft. Und vielleicht sind das alles Kategorien, die man der Generation Y (die heute etwa 15- bis 35-Jährigen, d. Red.) gemeinhin nicht so sehr zurechnet.
Die Gründergeneration stirbt aus. Heute wollen junge Menschen geregelte Arbeitszeiten und Arbeit und Beruf vereinbaren. Ist das aus Ihrer Sicht nachvollziehbar?
Dass die jungen Leute so denken und empfinden, ist verständlich. Ich stelle mir allerdings schon manchmal die Frage, ob die Prioritäten nicht hin zu einer sehr umfassenden Eigenentwicklung verschoben sind. Ich glaube, dass bestimmte Dinge im Leben nicht möglich sind, wenn man sich stark auf die Verwirklichung der eigenen Interessen fokussiert. Und ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen, die etwas verändern wollen, mehr tun müssen als das, was man in einem geordneten Acht-Stunden-Tag unterbringen kann. Um dieses Unternehmen – Trumpf – zum Erfolg zu führen, habe ich Tag und Nacht gearbeitet. Ich würde trotzdem sagen, dass ich ein gutes Leben geführt habe und mich auch um meine Kinder kümmern konnte.
Schaffenskraft, die aus dem Nichtstun erwächst, soll es allerdings auch geben.
Ich halte das für schwer möglich. Um innovativ zu sein, braucht man zuallererst Wissen. Dieses Wissen muss man sich durch Fleiß erarbeiten, es dann in die Anwendung bringen. Die entstehenden Produkte und Innovationen muss man auch durchsetzen – etwa gegenüber konkurrierenden Ideen, die man für weniger gut erachtet. Hartnäckigkeit gehört da dazu. Der Arzt und Nobelpreisträger Paul Ehrlich hat die Formel für Erfolg einmal durch die vier G Geduld, Geschick, Glück und Geld beschrieben. Das sehe ich auch so.
Glück hat mit persönlichem Streben aber nichts zu tun. Es ist einfach nur da.
Trotzdem ist auch Glück unerlässlich. Hätte ich in meinem Leben nicht auch Glück gehabt, wäre ich nicht da, wo ich bin. Alles hat der Mensch nicht in der Hand. Ich bin Protestant und glaube an eine glückliche, göttliche Führung durch all die Wechselfälle des Lebens.
Sie sind ein Vollblut-Techniker mit einem Hang zu Kultur- und Geisteswissenschaften. Nicht zuletzt haben Sie Ihrer Tochter Nicola, einer Philologin, vor zehn Jahren den Trumpf-Firmenvorsitz übertragen. Woher kommt diese Zuversicht den scheinbar brotlosen Künsten gegenüber?
In der Schule waren meine Lieblingsfächer Deutsch, Philosophie und Geschichte. An Physik und Chemie hatte ich lediglich Interesse. Ich hätte genauso gut Philosophie oder Germanistik studieren können, und ich würde das mit der gleichen Begeisterung betrieben haben wie den Maschinenbau. Ich bin auch davon überzeugt, dass sich die verschiedenen Fachrichtungen durchaus befruchten können. Zumindest ist die Fähigkeit, Querverbindungen zu ziehen, für Innovationen entscheidend. Den Lehrstuhl für Technikgeschichte habe ich der Universität Stuttgart gestiftet, weil ich der Meinung bin, dass Ingenieure heutzutage zu einseitig auf Fachliches getrimmt werden. Sie verändern die Welt, aber sie denken zu wenig darüber nach, was ihre Erfindungen bewirken. Nötig wäre es dagegen, das alte Ideal des Universalgebildeten wieder in den Vordergrund zu rücken.
Was bedeuten Ihnen persönlich die sogenannten schönen Künste?
Ohne Literatur, so pathetisch das auch klingen mag, könnte ich gar nicht leben. Erich Kästner, Thomas Mann, Carl Zuckmayer, und auch Gedichte liebe ich sehr. Eines von Ingeborg Bachmann geht mir gerade nicht mehr aus dem Sinn: Es kommen härtere Tage/ Die auf Widerruf gestundete Zeit/ Wird sichtbar am Horizont/
Also wenn einem das nicht nahegeht, zumal in meinem Fall, mit 85 Jahren (lacht). Wie man mit so wenigen Worten ein Gefühl so präzise ausdrücken kann, finde ich bewundernswert. Oder nehmen sie Kästners „Maigedicht“ (er beginnt zu rezitieren, d. Red). Die Sprache und der Rhythmus sind einfach wunderbar. Mein ganzes Leben habe ich aus solchen Versen Kraft und Inspiration geschöpft. Auch für meine Arbeit hier bei Trumpf.
Wie passt all das zur durch Strenge geprägten pietistischen Geisteshaltung, der Sie sich ja auch verpflichtet fühlen?
Ich wäre im Rheinland sicher ein schlechter Karnevalsprinz. Aber die Fähigkeit zu lachen und mich zu freuen habe ich sehr wohl. Ich bin auch kein praktizierender Pietist. In meiner Jugend habe ich mich recht kritisch mit meinem tatsächlich tief vom Pietismus durchdrungenen Umfeld auseinandergesetzt. Allerdings habe ich danach gemerkt, dass viele der pietistischen Maximen in meinem Leben sehr wohl eine positive Rolle gespielt haben.
Sie kennen die USA und Asien aus dem Effeff. Dem deutschen Südwesten sind Sie aber immer treu geblieben. Warum?
Baden-Württemberg ist meine Heimat. Ich bin Schwabe von Geburt und aus Überzeugung. Unseren Dialekt halte ich zum Beispiel – bei all meiner Schwärmerei für die deutsche Literatur – für eine großartige Möglichkeit, Stimmungen, Gefühle und atmosphärische Nuancen auszudrücken. Es sind aber auch die ganz trivialen Dinge, die ich vermisse, wenn ich gerade nicht in Schwaben bin. Gutes Gsälz oder einen Lemberger. Als junger Mann habe ich meine Mutter nach einer Amerikareise einmal gebeten, mich am Flughafen abzuholen und mir eine dieser wunderbaren schwäbischen Butterbrezeln mitzubringen. Auf sie hatte ich das, was man Heißhunger nennt. Wir können hier eben nicht nur Maschinenbau.