Captain America, wie ihn Jack Kirby sah. In: „Tales Of Suspense“, No. 94, Oktober 1967 Foto: Marvel/Taschen

Wie leer war die Welt ohne Spider-Man, die X-Men oder die Avengers! Vor 75 Jahren erschien der erste Marvel-Comic. Heute sind diese Superheldenstorys eines der erstaunlichsten Phänomene der Popkultur.

Hitler hatte Europa gerade den Krieg erklärt, in den USA war man noch damit beschäftigt, sich von der Wirtschaftskrise zu erholen, als ein Verlag, der damals Timely Publications hieß und später in Marvel umbenannt werden sollte, ein Heft herausbrachte, das von Übermenschen erzählte, die die gesellschaftliche Realität nicht kümmerte. The Human Torch und The Sub-Mariner standen gewissermaßen für die Elemente Feuer und Wasser – und taugten nicht wirklich zu Superhelden.

Namor der Sub-Mariner besaß zwar übermenschliche Kräfte und konnte unter Wasser atmen. Sein erstes Abenteuer endet aber damit, dass er mit bloßen Händen ein Schiff an den Klippen zertrümmert und einige Taucher ermordet, weil er sie für Roboter hält. The Human Torch – also die menschliche Fackel – war dagegen tatsächlich kein Mensch, sondern ein amoklaufender, entflammter Roboter. Am ehesten an einen richtigen Superhelden erinnerte in der Premiere der Reihe „Marvel Comics“ im Jahr 1939 noch ein kostümierter Verbrechensbekämpfer namens The Angel, der aber ohne Superkräfte auskommen musste.

Von Anfang an waren die Marvel-Helden irgendwie anders, hatten nichts gemein mit diesem Strahlemann im roten Cape, den der DC-Verlag ein Jahr zuvor erstmals durch Metropolis hatte fliegen lassen: Er sollte der erste und stärkste aller Comic-Superhelden sein und wurde deshalb auch ganz schlicht Superman genannt.

Es sollte bis März 1941 dauern, bis Comiclesern ein klassischer Held präsentiert wurde, ein Patriot, der für die Freiheit und für Amerika in den Krieg zog: Der zum Supersoldaten Captain America mutierte schwächliche Bursche Steve Rogers lehrte mit Sternenbanner auf der Brust Nazis das Fürchten. „Wir werden dich Captain America nennen, Sohn! Denn genau wie du soll Amerika die Kraft und den Willen aufbringen, unsere Küsten zu schützen!“, schrieb Joe Simon in einer der Sprechblasen in „Captain America Comics #1“.

Captain America, der längst statt Nazis Superschurken jagt, ist zwar einer der dienstältesten Helden im Marvel-Universum. Doch in seinem ungebrochenen Heroismus ist er eine Ausnahmeerscheinung. Der Verlag, der seit 1962 Marvel Publishing heißt und inzwischen zum Disney-Konzert gehört, bevorzugt heute eher abseitige Charaktere und Außenseiter, Geschichten, in denen Gut und Böse oft ganz nah beieinanderliegen, und Helden, deren Schwächen fast genauso groß sind wie ihre Superkräfte. Und von der Verlagszentrale in Manhattan aus werden immer neue Comic-Helden in die Welt hinausgeschickt. Die heute berühmtesten stammen aus den 1960er Jahren – wie zum Beispiel Die Fantastischen Vier (1961), Spider-Man (1962), Hulk (1962), Thor (1962), die X-Men (1963), Iron Man (1963), Daredevil (1964) oder der Silver Surfer (1966).

Fast alle Superstars des immer weiter expandierenden Marvel-Universums hat sich Stan Lee ausgedacht. Der Comicautor hatte 1941 als 19-Jähriger bei Marvel angefangen, war zunächst dafür verantwortlich, die Tintenfässchen der Zeichner mit Tinte zu füllen. In den 1960er Jahren bildete er dann zusammen mit den Zeichnern Jack Kirby und Steve Ditko das Marvel-Dreamteam, prägte die Marke nachhaltig.

„Comics sind für mich Märchen für Erwachsene“, hat Stan Lee einmal gesagt. Kreativ war Lee, der bis zum Geschäftsführer bei Marvel aufstieg, aber nicht nur beim Erfinden von Superhelden, sondern auch bei deren Vermarktung. Schon in den 1980er Jahren begann er damit, TV- und Filmprojekte für Marvel zu vermitteln. Seit 1993 produzieren die Marvel Studios Fernseh- und Kinoableger der Comicstorys. Und Lee ließ es sich nicht nehmen, sich in den Verfilmungen von Spider-Man, Iron Man, Captain America, Thor, den Avengers und den Guardians Of The Galaxy stets kleine Gastauftritte zu sichern. Die zehn Filme, die seit 2008 in die Kinos kamen, haben zusammen mehr als 7,1 Milliarden US-Dollar (5,6 Milliarden Euro) eingespielt.

Doch obwohl die Filmadaptionen der Marvel-Heldenstorys heute erfolgreicher sind als die Comics selbst, zeigen sie nur einen bruchstückhaften Blick in das gigantische Universum der Fantasie, das vor 75 Jahren entstand – und das täglich weiter wächst.

Der einige Kilo schwere, übergroße Prachtband „75 Years Of Marvel“ schafft dagegen Überblick, verfolgt spektakulär ausgestattet die Erfolgsgeschichte der Marvel-Comics, bildet die historische Entwicklung mit zahllosen Originalseiten und Konzeptzeichnungen in unerhört guter Druckqualität ab, erzählt aus einem Universum voller übernatürlicher Wesen, die zwar größer sind als wir, uns aber trotzdem verblüffend ähnlich sehen.