Martin Schläpfers neuster Streich: Szene aus „Petite Messe Solonnelle“ Foto: Gert Weigelt

Ein Phänomen: Martin Schläpfer lotet die Möglichkeiten des Balletts mutig aus – derzeit in Richtung Tanztheater. Das zeigt seine Uraufführung „Petite Messe Solennelle“ in Düsseldorf, die das Ballett am Rhein am 21. Juni nach Ludwigsburg zu den Schlossfestspielen bringt.

Düsseldorf - „Rossini war ein Popstar“, ordnet Martin Schläpfer den beliebten Komponisten komischer Opern ein. Als der Italiener 1863 die Musikwelt mit seiner „Petite Messe Solennelle“ verblüffte, hatte er sich schon seit über 30 Jahren zurückgezogen. Der Freund irdischer Genüsse ging, 37 Jahre alt, nach Paris. Dort waren seine samstäglichen Soiréen, bei denen er kochte und musizierte, gesellschaftliche Ereignisse. „Péchées de vieillesse“, „Alterssünden“, nannte er seine kleinen Musikstücke. Dazu zählte er auch jene „Kleine, feierliche Messe“, die er ironisch dem lieben Gott widmete. Sie ist 85 Minuten lang und alles andere als eine Petitesse.

Martin Schläpfer, Chefchoreograf des Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg, hat dazu ein groß angelegtes, geradezu gotteslästerliches Ballett kreiert. Denn aus dem Werk für vier Solisten (Sopran, Alt, Tenor, Bass), für gemischten Chor, zwei Klaviere und Harmonium hörte er nachdenkliche Melancholie, aber auch die Vitalität der Opera Buffa.

Während aus dem Graben die intime Originalbesetzung erklingt, entfaltet sich auf der Bühne das Alltagsleben eines italienischen Dorfs in den 1940ern. Schläpfers Ausstatter Florian Etti baute eine architektonische Bühne mit asymmetrischen Bögen zwischen Piazza und Kirchengewölbe. Sie liegt im Halbdunkel, und das Licht, das das lebhafte Völkchen in Kittelkleidern und Hosenträgern hervorhebt, verleiht den Szenen etwas Malerisches.

Hier liegen Leid und Lust nah beieinander. Da ist ein Pfarrer, hin- und hergerissen zwischen Askese und weltlicher Verführung. Eine Frau, die Arme voller Rosenkränze, hält verzweifelt Zwiesprache mit Gott. Vor allem aber gibt es das Volk, das man in grandiosen Ensembleszenen sieht. Mal schleicht es übertrieben devot mit gebeugtem Rücken, mal versprüht es virtuos Lebenslust.

Schläpfer ätzt gegen Kirche und Religion

Schläpfer versetzt in einen Bilderrausch: Die feine Klangwirkung von Sängern und Chor und die extrem dichten Szenen konkurrieren um die Aufmerksamkeit. Sah man je solch eine vertanzte Messe? Zum „Cum Sancto Spiritu, in Gloria Dei Patris“ stampfen acht Tänzer mit derbem Schuhwerk auf den Boden, als wollten sie den Heiligen Geist in die Flucht schlagen. Marcos Menha interpretiert mit gebrochener Klassik-Eleganz das Bass-Solo „Quoniam tu solus Sanctus“.

Mitunter denkt man an die Commedia dell’arte. Der Pfarrer bibbert und kratzt sich hektisch am Bein, wirft sich auf den Boden wie eine Karikatur. In einer Pantomime trinken Mönche Espresso, rauchen und stopfen sich schließlich eine phallische Wurst in den Mund. Überhaupt hat Schläpfer es mit bitterböser Requisiten-Symbolik. Mit Schinken-Keulen schlagen sich Tänzer wie mit einer Geißel auf den Rücken. Und Carabinieri tragen Fahnen mit dem Konterfei des Papstes.

Ganz anders als John Neumeier in Hamburg, der mit seinen Balletten zu Sakralmusik ästhetisch berühren, oder Alain Platel, der mit erhabener Musik die niedrigen Menschen trösten will, ätzt Martin Schläpfer gegen Kirche und Religion. Er sucht Antworten auf existenziell-philosophische Fragen. Und lotet die Möglichkeiten des Balletts, derzeit Richtung Tanztheater, immer weiter aus.

Martin Schläpfer ist selbst ein Popstar. Seine Kunst? State of the art plus visionärem Anspruch. Sein Ballett am Rhein? 45 Tänzer-Persönlichkeiten. Sein Publikum? Eine Gemeinschaft der Tanz-Entdecker – Generationen und Schichten überwindend.

Mittelmaß und Anbiederung sind dem Choreografen zuwider

Um sein Publikum wird Schläpfer mancher Ballettchef beneiden. Bei der Premiere der „Petite Messe Solennelle“ in Düsseldorf sah man viel Prominenz. In Duisburg, beim populären Ballettabend B. 31 – Schläpfer nummeriert seine Programme –, flanierte jüngst ein Mann mit MSV-Fußballschal durchs Opernfoyer. Ein jugendliches Paar - sie mit Lippen-Ringen, er mit verfilzten, ins Gesicht hängenden Rasterlocken - studierte das Programmheft. Auf einer Bank saß eine alte Dame neben ihrem Rollator. Oft trifft man Künstler der zeitgenössischen Szene. Die Auslastung übertraf, zumindest in Düsseldorf, im Zeitraum von 2012 bis 2016 mit einer Ausnahme die der Opernsparte. Die Presse feiert den 57-Jährigen – meistens. Und höchste internationale Auszeichnungen und Jurys zieht er magisch an.

Wie macht der eigenwillige Schweizer das? Er, der sich doch zur Elite-Kunst bekennt, dem das Mittelmaß ebenso zuwider ist wie die Anbiederung? Er ist besessen von der Tanzkunst. Sein Ensemble besteht aus Individuen. Seine Tänzer sind seine Musen. Gleichzeitig sind es Top-Techniker. Sie verkörpern Schläpfers visionäres, am Dasein zweifelndes Menschenbild ebenso wie Hans van Manens kristalline Klarheit oder William Forsythes komplizierte Dekonstruktion-Ästhetik. Wie auch die Handschriften der alten Meister. Denn der Kompanie-Chef programmiert klug und bisweilen gewagt. Mehrteilige Abende nutzt er zum tanzhistorischen Bildungsexkurs und zur innovativen Entdeckungstour. So hat er das Ballett am Rhein zurück an die internationale Spitze geführt.

Das eigene Werk – er hat ein beachtliches Oeuvre geschaffen – polarisiert durchaus. Freunden des Handlungsballetts ist er zu intellektuell. Schläpfer neigt zum Extremen, liebt das künstlerische Risiko. In der „Petite Messe Solennelle“ zeigt er sich kühner und kämpferischer denn je.

Termin 21. Juni Ludwigsburger Schlossfestspiele