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Marijn Rademaker, ehemaliger Solist des Stuttgarter Balletts, lebt seit zwei Jahren in Amsterdam. Beunruhigt blickt der Tänzer auf den Populisten Geert Wilders, der mit Hass auf Stimmenfang geht.

Stuttgart - Als Kind hat der holländische Tänzer Marijn Rademakergeglaubt, Deutschland sei ein Land qualmender Fabriken unter stets grauem Himmel. Beim ersten Urlaub in der Eifel entdeckte er, dass das alles nicht stimmt. Später tanzte der junge Mann mit dem hellen Haarschopf fünfzehn Jahre lang beim Stuttgarter Ballett und avancierte zum Publikumsliebling, Über Vorurteile, deutsch-holländische und was die Besetzung von Muskelrollen mit einem blonden Ballettprinzen betraf, hatten wir mit Rademaker vor seinem Debüt als Petrucchio in „Der Widerspenstigen Zähmung“ gesprochen. Das war 2013. Ein Jahr später zog es Rademaker zurück in seine Heimat, wo er Mitglied des Het Nationale Ballet in Amsterdam ist.

An diesem Mittwoch sind in den Niederlanden Parlamentswahlen. Und die Umfrageergebnisse für den Rechtspopulisten Geert Wilders und seine Partei der Freiheit sind so alarmierend hoch, dass es Zeit ist, noch einmal mit Marijn Rademaker über Klischees zu sprechen. Eigentlich stellen sich die Deutschen die Holländer besonders tolerant, liberal, freundlich und humorvoll vor, ein Volk aus lauter Sympathieträgern vom Schlage Rademakers, in einem Land lebend, in dem man Haschisch legal und entspannt in Coffeeshops konsumiert.

Für Wilders ist Kultur ein „linkes Hobby“

Stimmt das nicht mehr? Haben die Niederlande ein neues, hässliches Gesicht? Eine gar nicht so tolerante Seite, die keine Lust mehr hat, nett zu sein, die auf Europa, auf Menschen aus Nordafrika, auf Moslems und auf Kriegsflüchtlinge schimpft, die polarisieren will statt integrieren? Marijn Rademaker kann nur ahnen, was mit einem Teil seiner Landsleute passiert ist: „Nach den Anschlägen vom 11. September hat sich die ganze Welt verändert. Ein schleichender Prozess: Es wurde Stimmung gegen Muslime gemacht, die jetzt in offenen Hass umschlägt. Politiker wie Geert Wilders benutzen den Hass, um Stimmen zu fangen.“

Dass Wilders Kultur als „linkes Hobby“ bezeichnet und ihr mit weiteren Kürzungen droht, obwohl sie bereits unter der aktuellen Regierung Federn lassen musste, empfinden Kulturschaffende wie Rademaker als bedrohliches Szenario. Trotzdem sei der Rechtspopulist kein Thema im multinationalen, 75-köpfigen Ensemble des Nationalballetts, sagt Rademaker. „Unter den Tänzern ist eher Donald Trump Gesprächsstoff“ – wenn denn überhaupt über Politik geredet wird. Die Karriere von Tänzern ist so kurz, dass der Fokus vor allem auf der eigenen Kunst, weniger auf dem politischen Umfeld liegt.

Umso bemerkenswerter findet Marijn Rademaker die Aktion, die der Amsterdamer Ballettdirektor Ted Brandsen für den syrischen Tänzer Ahmad Joudeh gestartet hat. Unter dem Motto „Dance for Peace“ wurde ein Spendenfonds eingerichtet, über den private Geldgeber die Ausreise des Tanzbegeisterten und seine Ausbildung in Amsterdam finanzierten. „Das war eine Geschichte, die ganz Holland verfolgt hat“, erzählt Marijn Rademaker: „So eine Aktion wäre unmöglich, wenn ein Mann wie Geert Wilders die Macht bekäme.“ Ahmad Joudeh hatte, wie der Film „Dance or Die“ dokumentiert, in Damaskus unter erschwerten Umständen seine Leidenschaft für den Tanz gelebt und an Kinder weitergegeben. Jetzt wartet er in Amsterdam, dass er irgendwann in ein friedliches Syrien zurückkehren kann – und erobert in der Zwischenzeit als Tänzer die Bühne.

Der eigentliche Skandal: die Kluft zwischen Arm und Reich

Auch Marijn Rademaker ist im Wartestand. Ein Knorpelschaden am Knie zwang ihn 15 Monate zum Pausieren. „Ich habe gerade wieder mit dem Training begonnen und eine harte Zeit hinter mir. Da ist es schön, zu Hause in Amsterdam bei dieser Kompanie zu sein“, sagt der Tänzer, der hofft, bald wieder auf die Bühne zurückzukehren. Überbrückt hat er die Verletzungspause als Ballettmeister, auch für die Juniorkompanie gab er Training. Als Tänzer hatte ihn das holländische Publikum in Neumeiers „Kameliendame“, in Balanchines „Jewels“ und in einem Van-Manen-Programm erleben können, bevor ihm sein Knie einen Strich durch die Karriereplanung machte. So war er an „Onegin“ in Amsterdam nicht in der Hauptrolle beteiligt, die er im Oktober 2014 erstmals bei einem Gastspiel des Stuttgarter Balletts in Bangkok getanzt hatte, sondern als Ballettmeister bei der Einstudierung.

Dass einer wie Wilders mit seinen rassistischen Parolen nicht Unruhe stiftet in einer bunten Truppe, wie sie jede Ballettkompanie in der Welt ist, verwundert Marijn Rademaker nicht. „Wenn ich noch in Stuttgart arbeiten würde, würde ich mich auch nicht von den Parolen einer rechtspopulistischen Partei angesprochen fühlen; die sind eher gegen Muslime, nicht allgemein gegen Ausländer gemünzt“, sagt der Tänzer. „Ich finde es trotzdem schade, dass sich nicht allmählich der Gedanke durchsetzt, dass wir alle, ob in Europa oder anderswo, in einer Welt leben.“ Der eigentliche Skandal liegt für den Tänzer in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. „Die acht reichsten Leute der Welt, habe ich gelesen, könnten den ganzen Globus mit ihrem Vermögen versorgen.“

Marijn Rademaker glaubt an die vermittelnde Kraft des Tanzes. „Gerade die Kunst kann helfen, Vorurteile abzubauen“, sagt er und nennt eine internationale Konferenz, die im Februar Ballettdirektoren aus der ganzen Welt in Amsterdam zusammengebracht hat, als Beispiel. „Tamas Detrich war auch hier, als über das Erbe und die Diversität des Balletts diskutiert wurde. Es ging darum, wie Ballett das Spiegelbild einer bunten, offenen Gesellschaft sein kann“, sagt Marijn Rademaker – und das ist eine Frage, in der sich Liberalität und Toleranz eines Landes spiegeln, in dem ein Geert Wilders hoffentlich Episode bleibt. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.marijn-rademaker-das-publikum-ist-eines-der-besten-der-welt.993a65c0-bb0a-46dd-a038-493914defeab.html http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.marijn-rademaker-vom-stuttgarter-ballett-ist-erstmals-petrucchio-wie-man-geht-sagt-alles.759c34dc-3228-4c1a-8f54-378f031ef810.html http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.abschied-am-stuttgarter-ballett-ich-habe-hier-gelernt-was-tanzen-eigentlich-ist.e955b564-1e05-46f0-bd1d-8ee6bd41bb36.html