So stellt sich der Maler Harald Reiner Gratz das Märchen „Hänsel und Gretel“ vor. Foto:  

Iris Berben und Thomas Thieme eröffnen in der Galerie Abtart in Möhringen einen neuen und einmal ganz anderen Zugang zu alten Märchen. Ein Abend voller Musik, Theater und Farbenpracht für den Besucher.

Möhringen - Viele Erwachsene haben den Bezug zu Märchen verloren, sofern sie nicht Kinder oder Enkel im Vorlesealter haben. Eine Lesung mit den Schauspielern Iris Berben und Thomas Thieme in der Galerie Abtart eröffnete den Zuhörern die Möglichkeit, sich neu mit Schneewittchen oder Aschenputtel zu beschäftigen. Eingerichtet hatte den Abend der Künstler Harald Reiner Gratz. Seine Bilder, die derzeit in der Galerie zu sehen sind, boten eine interessante Ergänzung zu den Worten „Es war einmal …“. Begleitet wurden die Lesenden von Arthur Thieme am Klavier.

Im Mittelpunkt standen die Worte

Der Abend begann klassisch: Mit Modest Mussorgskis Klavierstück „Bilder einer Ausstellung“ leitete der junge Pianist das Programm ein, das er behutsam begleitete. Die Musik, die vom Klassischen zur Improvisation überging, drängte sich dabei nie in den Vordergrund. Kleine Klänge, hingetupft, illustrierten die Märchensprache oder boten Spannung zum Höhepunkt einer Geschichte. Im Mittelpunkt aber sollten die Worte stehen.

Ein Märchen wird zum Leben erweckt

„Vom Fischer und seiner Frau“ ist eines der weniger berühmten Märchen der Gebrüder Grimm. Die Geschichte handelt von einem Fischer, der einen in einen Butt verwandelten Prinzen fängt, ihn wieder frei lässt und zum Dank einen Wunsch frei hat, und von des Fischers Frau, die viele Wünsche hegt. Die Vorleser illustrierten die Geschichte mit sprechenden Bildern. Der freigelassene Butt zum Beispiel lässt „einen langen Streifen Blut hinter sich“. Das Meer ist anfangs grün und gelb, verändert sich aber mit jedem Wunsch der Frau zu violett, zu tiefschwarz. „Die See fing an zu schäumen und Blasen von unten zu werfen“, las Thomas Thieme – und das Naturschauspiel stand lebhaft vor den Augen der Zuhörer. Das entsprechende Ölbild von Gratz legt den Schwerpunkt auf die handelnden Personen: Links die zeternde Frau, die eindringlich auf ihren Mann einwirkt, immer wieder mit ihren Wünschen zum Butt zu gehen. Auf der anderen Seite ist ihr Wunsch illustriert, Gott zu sein und die strahlende, goldgelbe Sonne aufgehen zu lassen.

Der Wunsch, wie Gott zu sein

Die Schauspieler wechselten sich beim Lesen ab und boten ein passendes Gespann mit Iris Berbens eher lieblichen und Thomas Thiemes rauer Stimme. Es bleibt in Erinnerung, wie die Schauspielerin den Triumph der Fischersfrau deutlich machte und schließlich deren Gier steigerte bis hin zu einem bösartigen „Ich will werden wie der liebe Gott“. Und Thomas Thieme sprach den Butt gleichbleibend freundlich, als wüsste dieser das Ende des Märchens bereits voraus.

Farbenspiel auch bei Schneewittchen und den Zwergen

Auch die Geschichte von Schneewittchen ist voll von Bildern, über das altbekannte „So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz“ hinaus. Die böse Stiefmutter ist gelb und grün vor Neid, das tote Mädchen hat noch seine roten Backen, sodass die sieben Zwerge den Sarg nicht in die schwarze Erde versenken möchten. Bei Harald Rainer Gratz sind die als Männerporträts dargestellten Zwerge, die lüstern auf ein nacktes Schneewittchen blicken, allerdings eher negativ gezeichnet.

Wenn es gar nichts zum Fürchten gibt

Komödiantisches Talent bewiesen die beiden Schauspieler bei „Aschenputtel“, wenn die Tauben dem Mädchen helfen, die Linsen aus der Asche zu lesen. Ihr „Pick, Pick, Pick“ machte ihnen offensichtlich selbst Spaß, doch immer hielten sie die Balance und machten sich keiner Übertreibung schuldig. Zur Überraschung geriet am Ende des Abends „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.“ Ein Märchen, das man ob seiner Gruselgeschichten von gehenkten und halbierten Menschen Kindern vorenthält, entpuppte sich als witzige Geschichte von einem naiven jungen Mann, der in seiner Dummheit doch immer die Logik auf seiner Seite hat.