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 Ich bin zu erstaunt, um wirklich Angst zu bekommen. Es hilft, dass die Leute um mich herum ganz ruhig sind. Vielleicht ein bisschen zu ruhig. 

Zuerst nehme ich die Sirene gar nicht war. Hört sich wie einer der vielen Krankenwagen an, die hier täglich durch Tel Avivs Straßen brechen. Nach und nach sehen sich die Menschen an den Tischen des Restaurants in der Bograshov Street neben mir dann doch erstaunt um. „Jesus“ murmelt einer. „Luftalarm“, sagt Pascal, der Schweizer, der mit mir am Tisch sitzt. Und: „Wir sollten jetzt nach drinnen gehen.“

Also gehe ich – überrumpelt wie ich bin – ins Innere des Restaurants. Ich bin zu erstaunt, um wirklich Angst zu bekommen. Es hilft, dass die Leute um mich herum ganz ruhig sind. Vielleicht ein bisschen zu ruhig. Etwa zwei Minuten stehen wir in dem Café im Weg herum, wie vergessene Regenschirme, dann strömen die Menschen nach draußen, um sich wieder zu ihrer Pizza zu setzen – als sei nichts gewesen. Ziemlich surreal ist das alles, ein bisschen aufregend auch. Ist das also Krieg? Ist das dieses abstrakte Wort aus den Geschichtsbüchern? Ist es das (minus Pizza), was meine Großmutter erlebt hat?

Zum ersten Mal seit 20 Jahren hören die Bewohner Tel Avivs einen Luftalarm. Ein Kollege erzählt mir später, dass er, nur wenige Straßen von Bograshov entfernt, kurz nach der Sirene ein dumpfes Grollen, wie einen Donner, gehört habe. Eine Raketen stürzt laut israelischen Angaben vor Jaffa ins Meer, die andere schlägt 15 Kilometer südöstlich von Tel Aviv ein. So lauten zumindest die letzten Angaben. „Es wird keine ruhige Nacht“, lässt das israelische Militär kurze Zeit später verlauten. Bereits zuvor waren Bomben in der Gegend von Rishon Lezion gelandet.

Kurz nach dem Luftalarm werde ich mit SMS, E-Mails und Telefonanrufen all der Lieben zu Hause bestürmt. „Geht es dir gut?“ - „Kannst du da noch bleiben?“ - „Was passiert in Tel Aviv?“ Frage 1: Ja! Frage 2: Ich denke schon. Frage 3: Ich weiß es wirklich nicht.

Bei Neubauten ist ein Sicherheitsraum Pflicht

Was ich sicher weiß ist, dass ich an diesem Tag großen Respekt vor den Leuten bekommen habe, die diesseits und jenseits der Grenze des Gazastreifens leben. Für einen Artikel, der am Freitag in den Stuttgarter Nachrichten zu lesen sein wird, konnte ich am Telefon mit Miki Lavi sprechen, der im Kibbuz Nirim lebt, nur etwa einen Kilometer von Gaza entfernt:

Miki und seine Frau Nurit sitzen seit Mittwoch fast ununterbrochen im Sicherheitsraum ihres Hauses. Bei Neubauten ist so ein Raum Pflicht, mit Stahltüren und -fensterläden, verstärkten Wänden und oft auch Gasmasken griffbereit. In meiner Gastredaktion bei Ynetnews ist zum Beispiel die Küche so ein Schutzraum. „Wenn wir da rein müssen, haben wir wenigstens genug zu essen und zu trinken“, erklärte mir am Donnerstag eine Kollegin und lachte. Das war Stunden bevor die Sirenen losgingen.

Im Kibbuz Nirim ist schon seit einigen Tagen alles Leben erstorben. Kindergarten und Schule haben geschlossen, sämtliche Geschäfte auch. Miki Lavis Verbindung zur Außenwelt sind Handy und Computer. „Hören Sie das?“, fragt Miki Lavi immer wieder während des Telefonats, im Hintergrund hört man einen dumpfen Knall. „Das war eine Kassamrakete, ich schätze etwa 100 Meter entfernt". Nach elf Jahren regelmäßigen Beschusses kennt er die Waffen und ihren Klang. Seit Mittwoch landen vor allem Vormittags und Abends Hamas-Raketen auf dem Kibbuz-Gelände. Menschen seien bislang nicht verletzt.

Miki und Nurit Lavi leben seit fast 40 Jahren in dem Kibbuz im nordwestlichen Negev, sie haben hier vier Söhne groß gezogen. Lange Jahre sei es ein ruhiges Leben gewesen, dann kam die Intifada 2000, der Rückzug des israelischen Militärs 2004 aus dem Gazastreifen und dessen Übernahme durch die Hamas. Seither leben die 450 Kibbuzbewohner damit, dass ihre Gemeinschaft alle paar Wochen beschossen wird, während der israelischen Militäroffensiven täglich. Seither leben sie im permanenten Ausnahmezustand. „Bei allem, was wir machen, müssen wir einen Notfallplan haben. Wenn wir zum Beispiel ein großes Fest feiern, müssen wir uns vorher überlegen, wo all die Leute in Sicherheit gebracht werden, falls etwas passiert.“ Das Schlimmste sei, dass es nie aufhöre: „Wenn Sie in Deutschland nicht aus dem Haus gehen können, weil zu viel Schnee liegt, wissen Sie, dass das wieder vorbei geht. Aber wir wissen nicht, ob das jemals aufhören wird.“

„Die Bedrohung sickert in dein Leben, in deinen Atem."

Viele Häuser und Felder des von der Landwirtschaft lebenden Kibbuzes wurden in diesen Jahren zerstört – und immer wieder aufgebaut, ein Mensch getötet. Am schlimmsten aber seien die Wunden der Seele. „Die Bedrohung sickert in dein Leben, in deinen Atem. Jeden Tag sprechen wir darüber, ob wir nicht besser wegziehen sollten, aber wir lieben diesen Ort", sagt Miki Lavi. Viele Familien mit kleinen Kindern hätten den Kibbuz in den vergangenen Jahren verlassen. Für die Kinder sei der Dauerausnahmezustand traumatisierend. „Wir erleben Kinder, die mit sieben Jahren wieder Bettnässer sind, nur bei ihren Eltern schlafen wollen oder Angst haben, in die Schule zu gehen", erzählt der 59-Jährige. Nurit Lavi, die das Bildungsprogramm des Kibbuz' leitet, versucht, auch in diesen Tagen für die Kinder ein Stück Normalität zu schaffen. Sie hat einen der großen Bunker so gut es geht zu einem Kindergarten umdekoriert, mit Spielsachen und Fernseher. Dort könnten die Kinder – zumindest ein paar Stunden lang - zusammen spielen und seien weg von ihren Eltern, die oft selbst große Angst hätten, sagt Miki Lavi. Die Zusammengehörigkeit im Kibbuz ist groß. Das helfe, sagt Miki Lavi. Eben kam ein Kibbuzmitglied vorbei und brachte ihnen – wie allen Haushalten - Lunchpakete, die in der Gemeinschaftsküche zubereitet wurden. „Wahrscheinlich sind wir nur deswegen überhaupt noch hier“, sagt Miki Lavi.

Ihre Stadt verlassen hat hingegen Goni Tsoref. Die junge Studentin lebt in Be'er Scheva, einer Universitäts-Stadt, weniger als 40 Kilometer von Gaza entfernt. Als die zukünftige Sozialarbeiterin am Mittwochnachmittag vom Beginn der Militäroffensive hörte, packte sie sofort ihre Sachen. „Innerhalb einer Stunde war die ganze Straße vor meinem Haus voller Studenten, die alle mit großen Taschen Richtung Busbahnhof liefen", erzählt Goni. „Nur eine Stunde später gingen die Sirenen los. Eine Freundin von mir saß im Auto. Sie ließ es einfach auf der Straße samt Schlüssel stehen und rannte in das nächste Gebäude, um in einen Bunker zu gehen." In der Nacht auf Donnerstag ertönte der Alarm dann erst stündlich, später alle 20 Minuten.

Goni will jetzt erst mal im Norden des Landes bleiben, wo ihre Verwandten wohnen. „Ich werde einfach warten. Unsere Schule informiert uns, sobald der Unterricht weiter geht." Ob sie schon mal über einen Studienortwechsel nachgedacht hat? „Nein, auf keinen Fall“, sagt Goni schnell, „ich liebe Be'er Scheva. Es wird irgendwann vorbei sein. Und dann gehe ich zurück.“ Ich denke, ich sollte auf jeden Fall hier bleiben. Später an diesem Abend erfahre ich noch auf Ynetnews, dass Benjamin Netanjahu zum Zeitpunkt des Luftalarms auch in Tel Aviv war – im Hauptquartier des Militärs. Er saß in einem Bunker während die Raketen einschlugen. Was für ein Trost!