Szene aus Alain Platels und Frank van Laeckes „En Avant, Marche!“ Foto: Phile Deprez

Alain Platels und Frank Van Laeckes „En Avant, Marche!“ bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen: Die Musik spielen die rund 40 Mitglieder des örtlichen Musikvereins Ossweil in getragenem Tempo. So melancholisch verhalten hat man Blasmusik selten gehört.

Ludwigsburg - Die Voraussetzungen sind nicht günstig: Am zweiten Aufführungstag von „En Avant, Marche!“ am Samstag ist das Theater Forum am Schlosspark nur zur Hälfte gefüllt. Das Marktplatzfest in Ludwigsburg und vielleicht auch Eric Gauthiers buntes Tanzfestival in Stuttgart üben offenbar mehr Anziehungskraft aus, als das Bühnenwerk der Belgier Alain Platel und Frank Van Laecke, das Theater, Tanz und Blasmusik eigenwillig verknüpft. Dennoch ist der Jubel nach 100 Minuten groß. Das Publikum goutiert, dass Aug und Ohr bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen eine ästhetisch höchst ungewöhnliche Nahrung erhalten. Allein: Mitreißend belebend und berührend fällt das Experiment nicht aus. Dabei wären die hier verhandelten Themen Krankheit und nahender Tod dafür gemacht, tief unter die Haut zu gehen.

Für ein Stück, das die Blaskapelle ins Zentrum stellt, beginnt „En Avant, Marche!“ auf einer kargen Bühne verblüffend still. Vor einer rostroten, mit Durchbrüchen versehenen Rückwand stehen Klappstühle, durch die sich der mit einem portablen CD-Spieler bewaffnete Schauspieler Wim Opbrouck hinkend seinen Weg bahnt. Aus dem Elektrogerät erklingt bald dumpf das Vorspiel zu Wagners „Lohengrin“. Zu gerne möchte der unter Alter und Krankheit ächzende Mann das Becken in seinen Händen zum Klingen bringen. Auf seinen Einsatz muss er lange warten, und so wird das Instrument zum Serviertablett oder zu Engelsflügeln.

Nach einem ersten klangvollen Zwischenspiel von einer Handvoll Blechbläsern erfährt das Publikum auf Italienisch und Deutsch, was dem Unglücklichen wiederfahren ist: Der Tod kam zu Besuch, steckte ihm eine Blume in den Mund und kündigte seine Wiederkehr in acht Monaten an. So poetisch-grausam lässt sich Kehlkopfkrebs umschreiben.

Der Rahmen ist gesteckt: Von nun an sieht man zu, wie der ehemalige Posaunist, der sein Instrument nicht mehr blasen und doch ganz ordentlich singen kann, vom Leben nicht lassen will. Zwischen reichlich Leerlauf haben der Gründer der Kompanie les ballets C de la B, Alain Platel, und der Regisseur Frank Van Laecke einprägsame Szenen von gesetzt. Etwa, als sich die goldglitzernden und stabwirbelnde Marketenderinnen Chris Thys und Griet Debacker dank übereinanderliegenden Fenster in der patinierten Wand über Stockwerke hinweg zu einer Figur verbinden. Oder wenn der Schlagzeuger Witse Lemmens jedes Objekt zum Perkussionsinstrument macht, das ihm beim Kampf mit einem Widersacher in die Quere kommt, und dabei Takt hält.

Vieles erinnert an Platels großes Vorbild Pina Bausch. Ihr Bonmot „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“ fällt mehrfach, teils abgewandelt. Auch als der Todkranke Wasser in die Luft prustet und sich seine Partnerin unter die Nebelwolke stellt, um ihren Niederschlag mit der Zunge aufzufangen, scheint die Meisterin des Tanztheaters nicht fern. Und doch: Kaum einmal entfalten diese bildhaften Parabeln zwischenmenschlicher Bindungen die emotionale Kraft, mit der die Wuppertaler die Bühne zum Schauplatz urmenschlicher Erfahrungen machen.

Die Ausnahme: der moderne Pas de deux, des Tänzers Hendrik Lebon mit dem gewichtigen Hauptdarsteller. Der gelenkige Tod nimmt den Akteur so oft auf die Schippe – auf Hüfte, Knie und Schultern –, dass es eine Lust ist, dem behutsamen Umgang mit der Last zuzuschauen.

Und die Musik? Die spielen die rund 40 als bewegte Formation auftretenden Mitglieder des örtlichen Musikvereins Ossweil mit den belgischen Instrumentalisten in getragenem Tempo. So melancholisch verhalten hat man Blasmusik selten gehört. Die Kompositionen von Edward Elgar, Giuseppe Verdi und Gustav Holst geben dieser Collage aus inszeniertem Vakuum, Wort, aus dem Off eingespielten Archivmaterial, Klang und Bewegung den nötigen Halt. Doch auch den A-cappella-Einlagen und geblasenen Märschen gelingt es nicht, den Funken zu entzünden und einen interessanten Abend in ein Ereignis zu verwandeln.