Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Foto: dpa

Mit ihrem ganz eigenen literarischen Stil ist sie zum moralischen Gedächtnis des zerfallenen Sowjetimperiums geworden. Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an die weißrussische Journalistin und Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch (67).

Stuttgart - Im Zeitalter der digitalen Reizüberflutung, der Echtzeitkommunikation, der News-Häppchen- und Schnäppchenkanäle, der You-Tube-Mode- und Foodblogger, scheint der Beruf des Journalisten ein wenig aus der Mode gekommen zu sein. Diese vom Hier und Jetzt besessene Welt ist kein Ort, der Ausführlichkeit, Gründlichkeit zu schätzen wüsste. Wer hätte heute noch Geduld für die literarischen Reportagen eines Heinrich Heine, eines Egon Erwin Kisch, eines Kurt Tucholsky, einer Maria Leitner, eines Joseph Roth, einer Annemarie Schwarzenbach – Chronisten ihre Zeit, für die es ganz selbstverständlich war, dass sie sowohl Schriftsteller als auch Journalisten waren?

Indem die Schwedische Akademie den diesjährige Literaturnobelpreis an die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch verleiht, stemmt sie sich gegen den Zeitgeist. Sie zeichnet eine Autorin aus, die in der Tradition dieser großen literarischen Chronisten steht. Alexijewitsch hat über die Atomkatastrophe in Tschernobyl berichtet („Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“), über den Krieg in Afghanistan („Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen“), über die unerfüllten Hoffnungen auf ein freiheitliches Land nach dem Zerbrechen des Sowjetimperiums („Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“).

Lebenswelten der Mitmenschen aufzeichnen

Sie hat denen eine Stimme gegeben, die sonst ungehört bleiben, hat ausgehend von Interview-Collagen eine eigene literarische Gattung erfunden und einfühlsam die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aufgezeichnet. Vor zwei Jahren war sie dafür bereits mit dem Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Am 10. Dezember darf sie nun in Stockholm auch noch den mit acht Millionen Kronen (850 000 Euro) dotierten Literaturnobelpreis entgegennehmen.

Die Leiterin der Schwedischen Akademie und Jury-Vorsitzende, Sara Danius, sagte, Alexijewitsch erhalte die Auszeichnung für ihr „vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“. Die Weißrussin habe sich in den vergangenen 40 Jahren damit beschäftigt, das Individuum der Post-Sowjet-Zeit zu kartografieren: „Aber sie beschreibt keine Geschichte der Ereignisse. Es ist eine Geschichte der Gefühle. Was sie uns bietet, ist eine Welt der Gefühle.“

Ihre Bücher ergeben eine russisch-sowjetische Chronik

„Das ist ganz groß, diesen Preis zu bekommen“, sagte die 67-jährige Alexijewitsch dem schwedischen Fernsehsender SVT am Donnerstag kurz nach der Verkündung am Telefon. Es sei eine Ehre, in einer Reihe mit großen Schriftstellern wie Boris Pasternak zu stehen. Als sie vor zwei Jahren den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhielt, hatte sie bei ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche gesagt: „Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast 40 Jahren an einem einzigen Buch, an einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg, Tschernobyl, der Untergang des roten Imperiums.“

Sie folge der Sowjetzeit: „In meinen Büchern erzählt der ,kleine Mensch‘ von sich. Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab.“ Und sie, Alexijewitsch, folgt ihm, lauscht, hört zu. Und sagt: „Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird, nur einen kurzen Augenblick lang existiert. Was ich auf der Straße hörte, konnte ich in den Büchern im Haus meiner Eltern, die beide Lehrer auf dem Land waren, nicht finden. Wie alle trug auch ich das Abzeichen mit dem lockenköpfigen Lenin als Kind. Ich träumte davon, Pionier zu werden und Komsomolzin. Ich bin diesen Weg bis ans Ende gegangen.“

Auszeichnung als politisches Signal

Swetlana Alexijewitsch, die im März im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Scheitern. Ein Festival des Misserfolgs“ in Stuttgart über Politik in Trümmern gesprochen hatte, ist erst die 14. Frau, die den wichtigsten Literaturpreis der Welt erhält. „Sie setzt in ihrem Werk auf das Wort und die Freiheit und nutzt ihre schriftstellerische Kraft selbstlos und mutig“, sagte Heinrich Riethmüller vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels am Donnerstag. Der österreichische Autor und Osteuropaexperte Martin Pollack wertet die Vergabe an die Weißrussin als politisches Signal. „Wenn man sich allein anschaut, was Alexijewitsch im vergangenen Jahr über Russland geschrieben hat, dann muss man die Entscheidung ganz klar als politisches Statement lesen.“

Michael Krüger, früher Chef des Hanser-Verlags, nannte die neue Literaturnobelpreisträgerin „eine sehr kämpferische, tolle Person“. Er hob ihre Rolle in der Opposition sowohl in Weißrussland als auch gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin hervor. „Sie wird eine große Ikone der Widerstandsbewegung werden.“

Alexijewitsch wurde 1948 im westukrainischen Stanislaw geboren (heute Iwano-Frankiwsk). Nachdem sie Journalistik studiert hatte, arbeitete sie zunächst als Lehrerin und bei einer Lokalzeitung. Da sie in Weißrusslands autoritärem Regime kein Gehör fand, lebte sie lange im Ausland, unter anderem in Paris und Berlin. 2011 zog sie trotz ihrer oppositionellen Haltung zurück nach Minsk.