Martin Kordic liest zum Auftakt von „zwischen/miete“. Foto: Max Kovalenko

Eine WG im Norden Stuttgarts ist die erste Station der Lesereihe „Zwischen/miete“ des Literaturhauses Stuttgart. Das Ziel des Projektes: Autoren stellen ihre Texte in studentischem Umfeld vor.

Eine WG im Norden Stuttgarts ist die erste Station der Lesereihe „Zwischen/miete“ des Literaturhauses Stuttgart. Das Ziel des Projektes: Autoren stellen ihre Texte in studentischem Umfeld vor.

Stuttgart - Zehn Leute teilen sich ein Bett, weitere zehn sitzen ringsum, die Schuhe stapeln sich in einer Ecke. Jemand baut eine Kamera zwischen Bücherregal und Zimmerpflanze auf. Es ist ruhig, hin und wieder hört man das Schnappen der Kühlschranktür, das Klirren von Bierflaschen. Das einzige Licht im Raum stammt von einer Leselampe auf dem Schreibtisch. Dahinter sitzt Martin Kordic und liest.

In einer WG im Norden Stuttgarts eröffnet das Literaturhaus Stuttgart seine Reihe „Zwischen/miete“. „Wenn das Publikum unter fünfzig nicht zu uns kommt, dann kommen wir eben zu ihm“, sagt Literaturhaus-Direktorin Stefanie Stegmann, bevor sie wieder in der Menge verschwindet. Knapp 90 Besucher drängen sich in der Wohnung; Stegmanns Konzept scheint aufzugehen: Das Publikum ist mit wenigen Ausnahmen jung und könnte selbst in dieser WG zu Hause sein.

Zu Gast ist Martin Kordic, 30-jähriger Debütautor, der bereits im Originalformat von „Zwischen/miete“ in Freiburg gelesen hat. Er liest Szenen aus seinem Roman „Wie ich mir das Glück vorstelle“ über den Jungen Viktor, der im Bosnienkrieg aufwächst. Wer es nicht in das Zimmer geschafft hat, in dem Kordic liest, sitzt in einem der beiden anderen Zimmer, dem Flur oder der Küche und lauscht ihm über Lautsprecher. Kordic erzählt von Viktors Leidensweg, wie er seine Eltern verliert und wie er sich mit seinem einbeinigen Freund Dschib durchs Leben schlägt.

"Oh, da steht eine Marienstatue"

Fast spannender als die Lesung selbst ist jedoch die Einrichtung der Wohnung. Über dem Bett hängen ein Porträt der Beatles, eine Gitarre und Schallplatten von „Vom Winde verweht“ und „Spiel mir das Lied vom Tod“.

„Oh, ich sehe gerade, dass da eine Marienstatue steht“, bemerkt der Autor zwischen zwei Textstellen, und alle verrenken sich die Köpfe. Wenn sich nicht gerade 20 Fremde in dem Zimmer drängen, wohnt hier eigentlich Philipp, einer der beiden Sozialpädagogen der Dreier-WG. Für Literatur interessiere er sich eigentlich nicht besonders, meint er, das sei alles Tinas Idee gewesen.

Wenn sie sich nicht gerade um die zerbrechlichen Einrichtungsstücke der Wohnung sorgt, arbeitet Tina im Verlagswesen. Über einen Verlegerfreund sei sie ins Gespräch mit Stefanie Stegmann gekommen und habe direkt ihre WG angeboten. Ganz schön mutig – oder? Tina zuckt nur die Schultern und öffnet eine Weinflasche.

Zwischen den Lesungsabschnitten stellen zwei Organisatorinnen dem Autor Fragen. Während er die Bedeutung von Teigschnecken erläutert, verschüttet jemand im Nebenraum eine Flasche Bier. Im Lesungszimmer bekommt man davon nicht viel mit; es ist ohnehin viel zu eng, als dass man aufstehen könnte.

Mit 20 Fremden auf einem Bett

Während der Fragerunde klingelt ein Handy; es hört sich ungewöhnlich laut an in dem kleinen Raum. Der Bildschirm leuchtet fast so hell wie die Schreibtischlampe; das Publikum rutscht auf dem individuellen Viertelquadratmeter hin und her. Der Autor liest vor, wie man Atombomben baut: „Das kann man später mal ausprobieren, falls Fanta im Haus ist.“ Ein erleichtertes Lachen geht durchs Publikum. Er spricht natürlich von dem Getränk Atombombe, nicht von dem Sprengkörper.

Am Ende darf auch das Publikum Fragen stellen. Jemand ruft etwas über die Köpfe der Menge hinweg aus dem Flur, und der Autor sagt, man solle sich nicht eilen: „Ich bleibe ja eh noch hier, rauche ein paar Zigaretten und trinke.“ Fürs Pressefoto reiht sich der Autor mit den WG-Bewohnern auf, die Bierflaschen bleiben im Bild, denn sie seien schließlich im Preis enthalten („Eintritt: fünf Euro, inklusive Bier und Brezel“).

Als irgendjemand das Licht wieder anmacht, sieht man sich plötzlich unbehaglich nach beiden Seiten um und realisiert, dass man die letzten eineinhalb Stunden mit 20 Fremden auf einem Bett verbracht hat. Man lächelt sich zu und beginnt, sich zu unterhalten.