Elefant Gajah, Indonesien, Java, 19.-20. Jh. Foto: © Linden-Museum Stuttgart, Foto: A. Dreyer

Dämonen tanzen, Sagengestalten, groteske Figuren – das Spiel mit dem Schatten ist so alt wie die Menschheit. Mit seiner neuen Ausstellung lockt das Linden-Museum hinein in eine zauberhafte, vieldeutige, manchmal unheimliche Welt.

Die großen Bildscheiben des Nang-Yai-Theaters beherrschen den Saal. Fast zwei Meter messen manche von ihnen, fast zehn Kilogramm wiegen sie: gewaltige Träume, in denen Figuren der thailändischen Geschichte und Religion auftreten. Ein Feuer aus Kokosnüssen flammt bei den Aufführungen des Nang-Yai-Theaters hinter dem Schirm, auf dem die Schatten tanzen, die Spieler halten die großen Schirme auf Rinderhaut über ihre Köpfe.

Ganz anders die Figuren des osmanisch-türkischen Schattentheaters, Hacivat und Karagöz, zwei kleine, bunte und skurrile Gestalten, die gemeinsam immer neue Geschichten erleben, sich zanken und aneinander vorbeireden wie Don Camillo und Peppone: Volkstümliches Schattentheater, das vom Alltag erzählt, von der Gesellschaft, ihren Schichten, den Menschen, witzig, subversiv. Aber auch hier gibt es die Dämonen, verschwimmt die Grenze zum Unwirklichen, steht vor dem Haus des Karagöz eines Tages die besessene Blutpappel, die besiegt sein will.

Eine heute marginalisierte Kultur

Zauber und Schrecken der Form, die sich nicht greifen lässt, begleiteten die Menschheit durch die Jahrhunderte. In seiner Ausstellung „Die Welt des Schattentheaters. Von Asien bis Europa“ zeigt das Linden-Museum das Schattenspiel als hoch entwickelte Kultur in China, Indien, Thailand, Indonesien, Griechenland, Ägypten, der Türkei – eine Kultur, die heute häufig marginalisiert ist, in der Vergangenheit verdrängt, vergessen war, politischer oder religiöser Zensur ausgesetzt oder vereinnahmt. Neben den kantigen Figuren des arabisch-ägyptischen Theaters stehen die sorgfältig gearbeiteten und verzierten Fürsten und Götter Südindiens, die fragilen und zugleich grotesken Traumgestalten des indonesischen Wayang, die Pergamentfiguren aus China, in denen sich die chinesische Oper spiegelt. Und der Karagöz der Türkei verwandelt sich in Griechenland in den nicht minder volksnahen Karagiozis. Licht und Schatten überall, im Linden-Museum: ein Kabinett der Träume.

Der Ursprung des Schattentheaters wird oftmals in China oder Indien gesucht. Das Linden-Museum versagt sich eine solche Deutung: „Die Ausstellung ist keine feste Reise, wir wollten hier keine große Geschichte erzählen“, sagt Annette Krämer, Leiterin des vierköpfigen Kuratorenteams der Ausstellung. „Wir sagen: Das ist Spekulation, die Beweise fehlen. Um dies feststellen zu können, müssten wir in die schriftlose Zeit zurückkehren können. Der Schatten ist etwas Existenzielles, das Spiel mit dem Schatten hat es schon immer gegeben.“

Schattenspieler sind heute selbst Teil der Aufführung

Eine große Renaissance des Schattentheaters in Europa sieht Rainer Reusch seit den 1970er Jahren. Reusch ist Gründer des Zentrums und Festivals für Internationales Schattentheater in Schwäbisch Gmünd, mit dem das Linden-Museum bei seiner Ausstellung eng zusammenarbeitet. Parallel zur Stuttgarter Schau findet das Festival vom 9. bis zum 15. Oktober zum zehnten Mal statt. Eine Anzahl zeitgenössischer Schattenspielfiguren aus der Sammlung des Zentrums ist im Linden-Museum nun erstmals zu sehen und soll später Teil eines interaktiven Museums für Schattentheater in Schwäbisch Gmünd werden.

Sehr häufig wird das Schattentheater heute offen gespielt, die Spieler selbst sind Teil der Aufführung. Zahlreiche neue Materialien werden verwendet, das traditionelle Format einer genau bestimmten Fläche löst sich auf, aus dem Spiel mit einfachen Schatten wird ein Spiel mit schillernden Projektionen. Vor allem aber ermöglicht die Verwendung von Halogenlampen – ihr Licht streut nicht, lässt scharf konturierte Schatten entstehen – ein Spiel, bei dem die Schattenfiguren im Raum bewegt werden können, Tiefe entsteht: Das Schattentheater steht dem Animationsfilm in nichts mehr nach.

Inspiration für Kandinski und Marc

Reusch verfasste für den vorzüglich gestalteten, durchweg farbig illustrierten Katalog, der die Ausstellung des Linden-Museums begleitet, einen Text, der einführt ins zeitgenössische Schattentheater und gleichzeitig auf eigene Weise nach seinen Ursprüngen fragt. Für ihn lässt sich das Schattentheater nicht reduzieren auf eine bloße Frühform des Films, für ihn ist es ein Spiel mit dem Unfassbaren, mit der Dualität von Licht und Schatten, ein Fenster in das Unbewusste.

Die Wechselbeziehungen zwischen Schattentheater und Kunst sind vielfältig – die Figuren des arabischen und ägyptischen Schattentheaters der Sammlung Kahle, im Besitz des Linden-Museums seit 1913 und die ältesten Figuren der Ausstellung, inspirierten mit ihren archaischen Formen Wassily Kandinski und Franz Marc, wurden von ihnen aufgenommen in den Almanach des Blauen Reiters. Heute lassen Schattenspieler sich anregen von der Kunst der klassischen Moderne, von Oskar Schlemmer beispielsweise. Die imposanten Schattenornamente des thailändischen Theaters fanden ebenso Eingang in die populäre Kultur ihres Landes wie die volkstümlichen Stücke des Karagöz- oder Karagiozis-Theaters, die heute auf manch einem türkischen oder griechischen Smartphone leuchten – und zwei Figuren, entstanden in Malaysia, zeigen, dass die populäre Kultur auch selbst ins Reich der Schatten eingekehrt ist: Darth Vader und Prinzessin Leia gehören nun auch dazu.