Leonie König hat den Autor Peter Stamm an ihre Schule geholt. Foto: Wenke Böhm

Leonie König hat den Autor Peter Stamm an ihre Schule, die Hedwig-Dohm-Schule, geholt: er liest aus seinem Buch „Agnes“, das Abitur-Pflichtlektüre ist.

S-Nord - Verschüchtert? Von wegen! Wie ein alter Hase sitzt Leonie König dem Erfolgsautor Peter Stamm gegenüber und plaudert über dieses und jenes, so wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sollte die Schülerin der Hedwig-Dohm-Schule nervös sein, so ist es der 18-Jährigen kein bisschen anzumerken. Keck fordert sie ihr Gegenüber verbal heraus, quetscht den Autor über sein Werk „Agnes“ aus und entlockt ihm mit ihrem Charme sogar Aussagen über seine Fehler und den Tod.

Leonie König hat das Treffen im Rahmen eines benoteten Projekts selbst eingefädelt und mit dem Fischer-Verlag koordiniert. Im Publikum sitzen an diesem Mittwoch 420 Schüler aus sieben Schulen – von Feuerbach bis Vaihingen. Die Veranstaltung war binnen kürzester Zeit ausgebucht, denn einen Schriftsteller, dessen Buch Pflichtlektüre für das Abitur ist, bekommen Schüler nicht jeden Tag zu fassen. Im Gegensatz zu vielen klassischen Autoren erfreue sich dieser Schriftsteller bester Gesundheit, scherzt Schulleiter Dieter Göggel zu Beginn. „Und wie die Kolleginnen sagen, hat er zudem ein ansprechendes Äußeres.“

Die Schülerin fragt, der Autor antwortet

Im Buch „Agnes“ aus dem Jahr 1998 geht es um die Beziehung eines Schweizer Autors zu einer deutlich jüngeren Physikstudentin. Im Werk vermischen sich Fiktion und Realität, wie schon der erste Satz ahnen lässt: „Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.“ Abiturienten konnten sich dafür entscheiden, das Buch mit „Dantons Tod“ von Georg Büchner und „Homo Faber“ von Max Frisch zu vergleichen.

Nachdem Peter Stamm aus zwei Kapiteln gelesen hat, ist Leonie König mit ihren Fragen an der Reihe. Welche Züge von Agnes autobiografisch seien, möchte sie etwa wissen. Stamms Antwort: Wirklich autobiografisch sei wenig, aber er schreibe halt gern aus seiner Erfahrungswelt. Insofern fließe ein bisschen von ihm immer mit in die Werke ein. Warum der Tod eine so große Rolle spielt? „Weil er wichtig ist.“ Liebe und Tod seien die großen Themen in der Literatur. Ob er gläubig sei? „Oh Gott! Ich bin eher Agnostiker.“

Immer wieder fragen die 18-Jährige und andere Schüler nach der Deutung. Stirbt Agnes am Ende? Ist der Bildschirmschoner symbolisch zu verstehen? Warum verändert Stamm die erwähnten Sternbilder in späteren Ausgaben? Auf die letzte Frage gibt der 51-Jährige eine klare Antwort, die nichts mit Mythologie zu tun hat: Ein Lehrer habe ihn darauf hingewiesen, dass die Sternbilder Schwan und Adler am Novemberhimmel über Chicago schlicht nicht zu sehen seien.

Sonst lehnt Stamm eine klare Interpretation jedoch meist ab: „Kein Autor kann alles deuten. Denken Sie an sich, was das Buch mit Ihnen macht.“ Wenn die Schüler dieses noch begründen könnten, sei das schon die halbe Miete. Bei der immer wieder gestellten Frage, ob Agnes am Ende noch lebt, legt er sich natürlich erst recht nicht fest: „Ich könnte mitdiskutieren. Darauf habe ich gar nicht die richtige Antwort.“ Da habe sich auch beim Schreiben etwas entwickelt: „Anfangs war ich sicherer, dass sie stirbt, aber es wurde immer unwahrscheinlicher.“

Die Aufregung kommt dann doch

Die gute Stunde auf dem Podium meistert Leonie König locker. „Ich habe schon öfter auf der Bühne gestanden“, verrät sie hinterher. Im Jugendgemeinderat Winnenden sei sie aktiv, außerdem tanze und singe sie. Anflüge von Lampenfieber habe sie einfach niedergerungen. „Die Aufregung kam erst heute Morgen im Auto. Aber als ich ihn kennenlernen durfte, habe ich mir klargemacht, dass er auch nur ein Mensch ist.“ Stamm ist nahbar, und dadurch bekommen viele Schüler einen anderen Zugang zur Abiturliteratur. In diesen Tagen reist er von Schule zu Schule, sogar auf Facebook ist er zu finden.

Ein Jahr hat die 18-jährige Schülerin noch bis zum Abitur. Das Buch „Agnes“ habe sie sehr gern gelesen, und Stamms neues Werk „Nacht ist der Tag“ wolle sie sich demnächst vornehmen. Eigentlich mag sie Psychothriller, aber neben der Schule komme sie im Moment nur wenig zum Lesen. Aufsätze schreibe sie nicht so gern. „Deutsch ist gar nicht mein Fach.“ Physik und Mathe lägen ihr deutlich mehr.

Beim Projekt, zu dem die Lesung gehört, stehen die Chancen auf eine gute Note allerdings nicht schlecht. Lehrerin Lisa Stöckle, die die Öffentlichkeitsarbeit für die Schule macht, ist ganz begeistert: „Ich finde es toll, dass wir jetzt als berufliche Schule die allgemeinbildenden einladen.“ Geht es nach der Schülerin, muss die Begegnung mit dem Autor nicht die letzte bleiben. Keck sagt sie ihm zum Abschied: „Ich würde sagen, Sie kommen nächstes Jahr wieder. Es war ganz nett.“