Bundeskanzlerin Angela Merkel (links) wirbt um Wählerstimmen Foto: dpa-Zentralbild

Der Bundestagswahlkampf ist selbst zu Beginn seiner letzten Woche noch einer im Schlafwagenmodus, ein Langweiler. So schallt es allerorten, und das zu Recht. Aber ist das so schlimm?

Stuttgart - Das Gemaule wird entlang der Zielgeraden nicht aufhören: Dieser Bundestagswahlkampf ist selbst zu Beginn seiner letzten Woche noch einer im Schlafwagenmodus, ein Langweiler. So schallt es allerorten, und das zu Recht. Aber ist das so schlimm? Zur Wahrheit gehört: Deutschland erlebt in diesen Wochen den Wahlkampf, den es verdient.

Es herrscht kein Mangel an Parteien, Angeboten, Alternativen. Auch nicht an Engagement der meisten Kandidaten oder an Veranstaltungen, Fernsehdebatten oder medialer Aufmerksamkeit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Dieser Wahlkampf ist ein getreues Spiegelbild der Lage des Landes und seiner politischen Verhältnisse. Im Guten wie im weniger Guten.

In der Mitte, wo die Wahl entschieden wird, mithin in der großen Mehrheit der Erwerbstätigen und der Rentner, gibt es ein waches Bewusstsein dafür, dass ihre politische und ihre wirtschaftliche Situation stabil, erträglich, wenn nicht gar erfreulich ist. Man muss nur die Grenzen Deutschlands verlassen, aber nicht mal die der EU, um mit bloßem Auge zu erkennen, was hierzulande auch ein Steuereinnahmerekord nach dem anderen dokumentiert: Es läuft.

Das erklärt die Stärke der Union. Sie surft konsequent auf dieser Welle. Was es für die SPD bedeutet, dass sie sich nicht ihren Anteil am guten Stand der Dinge auf die Fahnen schreibt, sondern so tut, als gehe es in Deutschland zutiefst ungerecht zu, wird sich am Wahltag zeigen.

Dieser Wahlkampf hat Inhalte-Lücken

Wenn es doch läuft – woher kommt dann aber so viel Unmut über diesen Wahlkampf? In das weitverbreitete Wissen um die gute Lage mischt sich das kaum weniger weit verbreitete Bewusstsein: Große Umbrüche haben längst begonnen, die Deutschland voll erfassen, die aber weder hier ihren Ausgang nehmen noch allein von hier aus zu steuern sind. Massenwanderbewegungen und Terrorismus gehören zu den Globalisierungserscheinungen wie weltumspannende Finanz- und Warenströme oder die Digitalisierung, die viele neue Berufe und Geschäftsmodelle entstehen, sehr viele andere aber verschwinden lässt.

Genau da fallen die großen Inhalte-Lücken dieses Wahlkampfs auf. Sie nähren den Eindruck des Beliebigen und der Langeweile. Wie genau es im Einzelnen weitergehen soll mit Deutschland, da fehlen Antworten. Die in den Umfragen schwächelnden Grünen zum Beispiel haben so wenig wie die anderen im Bundestag vertretenen Parteien das Thema Zuwanderung offensiv besetzt. Das aber hätte ihre Nische sein können. Schließlich wären viele Wähler dankbar für realistische Ideen, wie sich mehr als eine Million Neubewohner integrieren lassen, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind.

Auch bemerkenswert: Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel hat sich, von ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz getrieben, sehr schnell festgelegt, dass es beim Höchstalter 67 für den Renteneintritt bleiben soll. Da mögen Versicherungsmathematiker fast einhellig warnen, dass das aktuelle System der Alterssicherung platzen wird, sollte dieses Eintrittsalter nicht jährlich um drei Monate nach oben klettern wegen der steigenden Lebenserwartung . Das mutige Bekenntnis einer Kanzlerin, zu tun, was getan werden muss, sähe an dieser Stelle anders aus.

Das mag, das muss man beklagen. Doch wer wie die FDP das Verdienen klar stärker thematisiert als das Verteilen, dessen Stimmenpotenzial reicht nicht allzu weit über zehn Prozent hinaus. Daran orientieren sich die meisten derjenigen, die gewählt werden wollen. Das sagt am Ende mindestens so viel über die Wahlberechtigten aus wie über ihre Politiker.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de