Ziel von Inklusion: Gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen Foto: dpa

Vor allem Barrieren in den Köpfen machen Behinderten das Leben schwer, meint Redakteurin Maria Wetzel.

Stuttgart - Freunde von Klassik und Jazz in aller Welt hätten Thomas Quasthoff wohl nie hören können, wenn er und seine Eltern nicht für seine Ausbildung gekämpft hätten. Eine Universität lehnte den begnadeten Sänger in den siebziger Jahren als Studenten ab, weil er kein Klavier spielte. Aufgrund seiner Contergan-Schädigung konnte er dieses Instrument nicht lernen. Für Thomas Dingel wiederum war der Leistungssport „mein Lebenselixier. Davon zehre ich noch heute“, sagt der ebenfalls Contergan-geschädigte 54-Jährige, der früher im Bundesligateam der Rollstuhlbasketballer spielte und Europas Nummer eins im Rollstuhltennis war. Heute macht sich der Herrenberger für Barrierefreiheit in Schulen und Vereinen, in der Arbeitswelt und im Alltag stark.

Hürden für Behinderte abzubauen ist ein langwieriges Vorhaben. 2009 ist in Deutschland die UN-Behindertenrechtscharta in Kraft getreten, die einen anderen Umgang mit Behinderten fordert. Sie stellt klar: Inklusion ist kein Gnadenakt, sondern ein Menschenrecht. Behinderte müssen sich nicht an die Gesellschaft „anpassen“. Vielmehr muss diese Betroffenen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen – und zwar in allen Bereichen.

Am intensivsten wurde in den vergangenen Jahren über Inklusion in der Schule diskutiert. Mit der Abschaffung der Sonderschulpflicht hat Baden-Württemberg 2015 einen wichtigen Schritt getan. Anders als in anderen Ländern bleiben im Südwesten die Sonderschulen aber bestehen – mit einem erweiterten Auftrag als sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren. Eltern von Kindern mit Handicap haben jetzt die Wahl, ob sie diese in eine Sonderschule oder in eine allgemeine Schule schicken. Zahlen darüber, wie die Familien entschieden haben, gibt es noch keine. Doch schon jetzt sehen Eltern darin einen Fortschritt: Viele haben endlich den Eindruck, dass es um das Wohl ihres Kindes geht. Nötig sind aber viele weitere Schritte: Zusätzliche Sonderpädagogen werden gebraucht, weitere Fortbildungen sind notwendig, und auch beim Schulbau und bei der Ausstattung ist noch viel zu tun.

Ausgleichsabgabe für Unternehmen anheben

Auch in anderen Bereichen müssen Diskussionen geführt werden und Taten folgen. Beispiel Arbeitswelt: Menschen mit Einschränkungen tun sich noch immer deutlich schwerer, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden. Das wird sich nur ändern, wenn die Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die das Soll nicht erfüllen, angehoben wird.

Es ist nachvollziehbar, dass die vielen Barrieren nicht einfach auf Knopfdruck verschwinden (können). Damit das Thema aber nicht einfach verdrängt oder auf die lange Bank geschoben wird, müssen Betroffene noch mehr Mitsprache erhalten. Dann hätte die vor einer Woche eröffnete Universitätsbibliothek in Freiburg vermutlich genügend Schreibtische für Rollstuhlfahrer oder auch einen Ruheraum. Die Bauleitung habe ihr Beratungsangebot leider nicht angenommen, kritisieren Studentenvertreter. Im Stuttgarter Nahverkehr werden sich Rollstuhlfahrer weiter schwertun, weil an den neuen S-Bahnen die Schiebetritte nicht funktionieren. Bei neuen Straßen werden Absenkungen vergessen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Dabei sind Investitionen in Barrierefreiheit Investitionen in die Zukunft. An- gesichts der steigenden Zahl älterer Menschen wächst auch der Anteil von Per- sonen mit Seh- und Höreinschränkungen oder Gehbehinderung. Wer ihnen lange ein selbstständiges Leben ermöglichen will, muss reale Barrieren und Barrieren im Kopf abbauen. Letzteres beginnt, wenn Kinder mit und ohne Handicap unaufgeregt miteinander lernen können.