Fahrkarten-Kontrolleure werden immer wieder Zielscheibe von Aggression Foto: Kraufmann/Piechowski

Aggressives Verhalten ist heute in vielen Lebensbereichen festzustellen. Es bedroht das Zusammenleben – auch in Stuttgart

Stuttgart - „Pöbeleien gegen Beamte nehmen zu“ und „Angriffe gegen Kontrolleure häufen sich“ – zwei Titelzeilen unserer Zeitung aus der vergangenen Woche werfen ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das Aufmerksamkeit verdient, weil es sich gegen die Stadtgesellschaft richtet, überhaupt gegen jede zivilisierte Form des Zusammenlebens: gemeint ist die Aggressivität.

Dieses Phänomen breitet sich aus. Zahlen, Statistiken, Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass Menschen im Umgang mit Behörden und Behördenvertretern zunehmend aggressiv auftreten. Nicht irgendwo, sondern hier in Stuttgart. Der Fall eines 26-jährigen Schwarzfahrers, der am vergangenen Sonntag im Stuttgarter Osten drei 45, 60 und 62 Jahre alten Kontrolleurinnen Verletzungen beibrachte, weil sie ihn überführten, ist schockierend. Und kein Einzelfall.

Stadt reagiert mit Präventionsprogramm

Aggressives Verhalten in Bussen, Bahnen und an Haltestellen wird in Stuttgart jährlich in mehreren Hundert Fällen aktenkundig. Tendenz steigend. Das Phänomen begegnet einem in vielen Varianten in vielen Bereichen. Städtische Bedienstete beispielsweise sehen sich in einem Maße Beschimpfungen ausgesetzt, dass sich die Stadtverwaltung zu einem Präventionskonzept veranlasst sieht und Betroffenen professionelle Hilfe anbietet.

Aggression ist die hässliche Seite des Stadtbilds. Polizisten sehen sich massiv damit konfrontiert. Ebenso viele Verkehrsteilnehmer. In einer repräsentativen Umfrage ermittelten Unfallforscher jüngst, dass jeder dritte Autofahrer mit einer aggressiven Grundstimmung unterwegs ist. Eine latente Gereiztheit stellte die Uni Darmstadt bereits vor einigen Jahren in Dienstleistungsbranchen fest. Ihre Studie registrierte bundesweit eine Zunahme von Beleidigungen und Drohungen durch Kunden. Böse Blicke, geballte Fäuste, in Ämtern, in Geschäften, auf der Straße. Warum ist das so?

Ein hohes Maß an Frustration

Die Gründe und Ausprägungen sind so vielschichtig wie die Individuen selbst. Da sind die Streitsüchtigen und die notorisch Unzufriedenen. Da sind die Politikverächter und die „Reichsbürger“, die das Gemeinwesen als Aufforderung zum Gemeinsein verstehen. Da sind die Überforderten und die Unterforderten, die Machos und die Ohnmächtigen. Die Selbstgerechten und diejenigen, die irgendwie immer eine Wut im Bauch haben und nach Ventilen suchen, um Druck abzulassen.

Auffällig ist das Maß an Frustration, das sich in aggressivem Verhalten äußert – am augenscheinlichsten in den Neuen Medien, „wo zunehmend die Sprache von aggressiver Maßlosigkeit Raum gewinnt“, wie der designierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitag bei seiner Vorstellung in Stuttgart treffend feststellte. Sie hat einen hohen Ansteckungsfaktor. Auffällig ist überdies die Anspruchshaltung, mit der Menschen anderen Menschen gegenübertreten. Je ausgeprägter diese Haltung ist, desto geringer ist der Respekt vor dem Beamten, dem Kontrolleur, der Verkäuferin. Der Kunde ist König, ja. Er hat aber nicht das Recht, sich despotisch aufzuführen.

Gewinnend ist das Aggressiv-Sein übrigens nichts. Gewinnend und cool ist es, gelassen zu bleiben. Und Humor zu zeigen. Darauf hat der israelische Schriftsteller David Grossman in dieser Woche bei einer Veranstaltung im Stuttgarter Literaturhaus hingewiesen. Humor, sagt Großman, ist ein Ausdruck innerer Freiheit. Vielleicht versucht man’s mal damit.

jan.sellner@stzn.de