Der Verdacht läuft in der Leichtathletik mit. Foto: Baumann

Dem Leichtathletik-Weltverband IAAF wird vorgeworfen, bei verdächtigen Blutwerten weggeschaut zu haben. Der Schaden ist groß, meint Helmut Digel, Mitglied des IAAF-Councils. Trotzdem sagt der ehemalige Tübinger: Diese Daten hätten nie veröffentlicht werden dürfen.

Stuttgart - Herr Digel, 800 Proben von Leichtathleten aus den Ausdauerdisziplinen sollen zwischen 2001 und 2012 Blutwerte aufweisen, die laut Experten nur einen Schluss zulassen: Betrug. Steckt die Leichtathletik in einer Doping-Krise?
Dass der internationale Sport Dopingprobleme hat, das ist nicht erst seit der Sendung am Samstag evident und dass die Leichtathletik ähnlich wie andere Sportarten ebenfalls gegen solchen Betrug kämpfen muss, ist ebenfalls schon ziemlich lange bekannt.
Aber laut den Recherchen handelt sich um eine neue Dimension des Problems.
Der Umfang ist aus der Sicht der Öffentlichkeit tatsächlich ein Problem. Aber diese Daten allein sind noch kein Beweis für Doping. Bekannt ist lediglich, dass in dieser Datenbank sehr viele erhöhte Blutwerte zu beobachten sind.
Erhöhte Blutwerte werden aber häufig als Indiz für Doping herangezogen.
Wie diese Daten zu interpretieren sind, da sind Mediziner gefordert. Schauen Sie sich nur den Fall Sachenbacher-Stehle oder den Fall Pechstein an, der nun schon Jahre andauert. Die Experten sind sich bis heute nicht einig, ob es sich um Manipulation handelt oder nicht. Es gibt eben auch erhöhte Blutwerte, die normal sind. Man kann auf der Grundlage dieser Zahlen nur größere Vorsicht walten lassen, Athleten langfristig beobachten und gewisse Werte mit vorherigen abgleichen. Aber das machen die Labors bereits. Nun grundsätzlich alles infrage zu stellen, finde ich nicht fair.
Dennoch stellt sich die Frage, wieso sich diese erhöhten Blutwerte häufen.
Diese Frage ist auch durchaus berechtigt, und man muss ihr genauer nachgehen. Ich kann dazu aber nichts sagen, weil ich kein Experte bin. Ich wünsche mir jetzt eine sehr schnelle, unabhängige Untersuchung. Für diese ist auch kein Experte aus Australien notwendig. Da können Sie jeden in Stuttgart niedergelassenen Chefarzt fragen. Der kann diese Werte deuten. Aber bei dieser Thematik gibt es noch etwas anderes, das mich wirklich stört.
Was denn?
Es ist ohne Zweifel ein Skandal, wenn der Inhalt einer solchen Datenbank an die Öffentlichkeit gelangt. Hier geht es ja um den Datenschutz der Athleten. Das ist ein echtes Problem. Es geht hier um vertrauliche Dinge. Deshalb haben auch nur die Ärzte Zugriff darauf.
Das heißt, auch Sie als ehemaliger IAAF-Vizepräsident und Mitglied des Councils haben diese Liste mit Blutwerten nie gesehen?
Kein einziges Council-Mitglied hat diese Liste je zu sehen bekommen.
Was macht denn der Weltverband normalerweise, wenn solche Anomalien entdeckt werden?
Meines Wissens wird zunächst der Athlet informiert, weil ein solch erhöhter Blutwert auch ein gesundheitliches Risiko darstellen kann. Diese Daten haben ihre Funktion in der Prävention. Nun werden die Daten anders interpretiert, deshalb ist eine unabhängige Untersuchung notwendig.
Hätte es eine solche aber nicht schon früher geben müssen?
Ich sehe den Zusammenhang nicht. Eine unabhängige Untersuchung wird ja nur nötig, wenn ein Vorwurf im Raum steht. Diese Daten wurden ja nicht gesammelt, um Vorwürfe zu erheben.
In den Enthüllungen wurde behauptet, dass der Weltverband absichtlich weggeschaut hat. Wurde bei der IAAF etwas vertuscht?
Ich verstehe den Begriff vertuschen in diesem Zusammenhang nicht. Die Athleten werden informiert und die Öffentlichkeit gehen die Werte nichts an. Ich glaube auch nicht, dass die verantwortlichen Ärzte oder die IAAF ein Interesse daran haben, etwas zu vertuschen. Warum auch?
Weil solche Skandale dem Weltverband und dem Sport schaden.
Aber wir haben doch ein Interesse an einem sauberen Sport. Und genau deshalb organisieren wir diese Datenbank, was nicht gerade billig ist. Viele andere Verbände tun gar nichts, denn wenn es keine Datenbank gibt, gibt es auch keine überhöhten Werte. Ich sage es bereits seit 25 Jahren: Derjenige, der aktiv gegen Doping kämpft, hat den Schaden, derjenige, der nichts tut, hat keinen Schaden. Das ist wirklich ein Ärgernis.
Wie geht es jetzt weiter?
Es wird jetzt vier Tage lang ein großer Skandal sein. Danach wird alles in Vergessenheit geraten, bis zum nächsten Skandal. Es ist in gewisser Weise die Fortsetzung einer unendlichen Geschichte, bei der man immer wieder den Eindruck hat: Niemand will richtig an das Dopingproblem ran. Wahrscheinlich wird es noch einen ein dritten und vierten Film geben.
Wer hat Ihrer Meinung nach kein Interesse?
Die Verbände, die Welt-Anti-Doping-Agentur, die Ethikkommission der IAAF. Die sind alle gefordert, nicht erst jetzt. Vor acht Monaten gab es die ersten Enthüllungen, von dieser Sendung bis heute ist nichts passiert. Und das ist das wirklich Kritische an diesem Vorgang. Alle Vorkommnisse wurden damals der Wada und der Ethikkommission, die unabhängig vom Verband all diese Vorwürfe zu überprüfen hat, gemeldet.
Aber bis heute hat sich nichts getan.
Genau. Bis heute wurde von diesen beiden Institutionen nach außen nichts veröffentlicht. Es gibt keinen Zwischenbericht, keinen Stand der Untersuchung. Im Grunde gibt es gar nichts. Das ist schon ein Ärgernis. Außer mich hat diese Tatenlosigkeit aber bisher keinen gestört.
Wie groß ist der Schaden für die Leichtathletik?
Groß, vor allem für die sauberen Athleten. Der Verdacht läuft jetzt immer und überall mit. Wenn sich der Zuschauer fragen muss, wer sauber ist und wer betrügt, schadet es der Sportart erheblich. Deshalb muss man als Verantwortlicher nun alles dafür tun, dass der saubere Athlet seinen Schutz erhält. Deshalb ist auch das Anti-Doping-Gesetz, für das ich mich 25 Jahre lang eingesetzt habe, so enorm wichtig.
Wie muss es jetzt weitergehen, damit sich wirklich etwas ändert?
Das Kontrollsystem muss auf jeden Fall aufrecht erhalten bleiben. Dennoch dürfen wir nicht glauben, dass man mit den Kontrollen dem Dopingproblem entscheidend entgegentritt, wenn man nicht gleichzeitig grundlegende Maßnahmen bei der Prävention ergreift. Die sind bislang nicht zu erkennen. Deshalb besteht die Gefahr, dass die nachrückenden Athleten ebenfalls in diese Dopingfalle geraten und am Ende dasselbe tun, wie die Betrüger zuvor. Dagegen vorzugehen ist äußerst schwierig.