Im Januar dieses Jahres spielten sich an der Haltestelle an der Garbe in Stuttgart-Plieningen dramatische Szenen ab. Ein Mann lag mitten in der Nacht schwer verletzt im Gleisbett. Foto: Thomas Krämer

Als der Student Micky Mehmajit Singh das Gleisbett in Stuttgart-Plieningen erreicht, traut er seinen Augen nicht. Hätte er am 23. Januar 2017 nicht auf sein Gefühl gehört und wäre weitergelaufen, hätte das wohl ein Menschenleben gekostet. Doch es kam anders...

Plieningen - Als der Krankenwagen von der Garbe wegfährt, fragt sich Micky Mehmajit Singh, ob sich sein Leben jetzt für immer verändert hat. Er stellt sich diese Frage noch einmal einige Tage später und findet schließlich eine Antwort. Und sie lautet: nein. In den frühen Morgenstunden des 23. Januars dieses Jahres stapft Singh von der Stadtbahn-Haltestelle durch den Schnee in seine unweit von der Garbe gelegene Wohnung. Seine Winterjacke ist mit Blut beschmiert. Alles, was er jetzt will, ist eine heiße Dusche. Das warme Wasser wäscht vielleicht das Gefühl ab, dass Singh gerade einen Albtraum erlebt.

Die Gedanken drehen in seinem Kopf Kreise: Hätte ich mein Auto nicht umparken müssen, hätte ich nichts gehört. Hätte ich mein Auto nicht umparken müssen, wäre ich nämlich vor meiner Haustür ausgestiegen und gleich schlafen gegangen. Hätte ich mein Auto nicht umparken müssen, wäre einige Dutzend Meter entfernt ein Mann verblutet, während ich schlief.

Fritz Kuhn verleiht eine Urkunde an den Lebensretter

Ein halbes Jahr später scheint der 20-jährige Student der Wirtschaftswissenschaften damit klarzukommen, dass der Zufall am 23. Januar ein Leben gerettet hat. Er rührt in einer Tasse Kakao und schildert ziemlich unbeeindruckt die Ereignisse jener Januarnacht.

Von der Tatsache, dass ihn der Gemeinderat Ende Juli als „Helfer in der Not“ ausgezeichnet hat, erzählt er gleichfalls in einem ruhigen Ton. Die Urkunde und die Medaille aus den Händen von Fritz Kuhn hat Singh laut Stadt damit verdient, dass er über seine gesetzliche Mindestverpflichtung hinaus in einer Gefahr für Leib und Leben geholfen habe ohne Rücksicht auf eigene Interessen.

Singh sagt, er hoffe, jeder hätte in seiner Lage so gehandelt. Dahinter steckt keine falsche Bescheidenheit. Er hat sich wirklich viele Gedanken darüber gemacht, was wäre, sollte er selbst einmal in eine verzweifelte Lage geraten. „Ich gehe davon aus, dass die meisten Menschen nicht einfach vorbeigehen würden“, sagt der 20-Jährige, und es klingt, als würde er dieser Hoffnung künftig sein Leben anvertrauen.

Singh steuert die Stadtbahngleise an

Singh ist an jenem Winterabend stehen geblieben, als er auf dem Weg von seinem an der Garbe geparkten Auto zu seiner Wohnung ein Stöhnen hört. Es ist kurz nach 1 Uhr in der Nacht. Der 23. Januar ist zwar ein Montag, dennoch überlegt sich Singh, ob nicht etwa jemand beim Feiern in der Innenstadt zu tief ins Glas geschaut hat und sich nun übergeben muss. Singh denkt nur einen Moment daran, darauf zu vertrauen, dass alles ganz harmlos ist. Dann steuert er durch den Schnee die Stadtbahngleise an.

Als er das Gleisbett erreicht, traut er seinen Augen nicht. Auf den Schwellen liegt ein Mann, dem das linke Bein unterhalb des Knies fehlt. Später wird die Polizei herausfinden, dass er noch vor der Haltestelle von der Stadtbahn erfasst und dann 30 Meter weit mitgeschleift worden war.

Er hat den Stumpf mit dem T-Shirt abgebunden

Singh sieht den blutigen Stumpf und ein sehr blasses Gesicht im Dunkeln. „Es war ja wahnsinnig kalt in dieser Nacht, und der Mann verlor viel Blut“, sagt Singh. Der Student spürt die Kälte durch seinen Wintermantel und seinen dicken Pullover. Er weiß aber dennoch, was er jetzt zu tun hat. Er zieht Mantel und Pullover aus und am Ende auch noch sein T-Shirt. Der Student steht in der Kälte mit nacktem Oberkörper da und reißt sein T-Shirt in Streifen. Er holt sein Handy aus der Manteltasche und wählt die Notrufnummer 112.

Dann nimmt er die Stoffstreifen und bindet sie um den blutenden Oberschenkel oberhalb des Knies. Er zieht den Stoff fest zu, um die Blutung zu stoppen. Mantel und Pullover legt er um den Verwundeten, um ihn zu wärmen. Der Mann hat ohnehin schon viel Blut verloren. „Ich habe gemerkt, dass er mir wegschläft.“

Er begreift, dass er den Mann nun auf jeden Fall bei Bewusstsein halten muss, damit er überlebt. Singh stellt dem Verletzten viele Fragen, versteht aber kaum, was der Mann im Gleisbett mit letzter Kraft als Antworten haucht. Er gibt ihm die eine oder andere Ohrfeige.

Ob er selbst nicht gefroren habe, halb unbekleidet im Schnee? Singh erzählt darüber nichts. Nur als endlich die Polizei kam, um die Erstversorgung des Schwerverletzten zu übernehmen, fragt er, ob er seinen Mantel wieder haben könne. Singh schätzt, dass er circa zehn Minuten alleine war mit dem um sein Leben ringenden Mann. Kurz nach der Polizei erscheint der Krankenwagen. Die Sanitäter heben den Mann auf eine Liege, schieben ihn ihren Wagen und sind so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht sind. Singh steht nun alleine an der Garbe, seinen verschmutzten Wintermantel am Körper.

Er sagt, er brauche keine psychologische Betreuung

Was er gedacht hat, als er allein mit dem Verletzten war, könne er nicht mehr genau sagen. Ob er nur noch funktioniert hat wie ein Flugzeug, das vom Autopiloten gesteuert wird? Singh zuckt mit den Schultern. „Ich habe schon gedacht: Was ist jetzt, wenn er gleich stirbt?“, erzählt er.

Der Wunsch, das nicht zu erleben, scheint sein Antrieb gewesen zu sein, in einer Ausnahmesituation so überlegt zu handeln. Fast so, als habe er alles aufgesogen, was er im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hat. Nein, er habe den Kurs nicht aufgefrischt, bevor er das Leben gerettet hat. „Mein Kurs habe ich vor dreieinhalb Jahren gemacht, vor dem Führerschein“, sagt Singh und klingt, als wolle er sagen, so wie jeder halt.

Einige Tage nach jenem 23. Januar besucht die Polizei den Studenten. Die Beamten wollen Singh zum einen über den Hergang des Geschehens befragen und zum anderen dem Retter eine psychologische Betreuung anbieten. Singh lehnt allerdings ab. „Ich habe nach ein paar Tagen gemerkt, dass ich mit de Sache ganz gut klar komme“, sagt er. Die Polizei habe ihm nicht viel erzählt über den Verletzten und seinen Hintergrund, fügt er hinzu. „Sie haben mir eigentlich nur eines gesagt. Dass er überlebt hat“, sagt Singh.