Der Mindestlohn macht den Apfelbauern zu schaffen: Ein Erntehelfer müsste nun eigentlich zehn statt fünf Kisten pro Stunde pflücken, um die Produktionskosten zu decken. Foto: dpa

EU-Normen und Mindestlohn machen den Apfelbauern am Bodensee zu schaffen. Ein Besuch auf einem Hof in Kressbronn.

Kressbronn - Der Regen tropft Viorel in den gebeugten Nacken. Die schwieligen Hände pflücken unermüdlich Apfel um Apfel vom Baum. Legen die Früchte in die Holzkiste. Stapeln die volle Kiste auf den Erntezug. Holen eine neue Kiste. Fünf Kisten pro Stunde muss er füllen. Es ist nass, es ist kalt, die Finger werden klamm. Aber Viorel strahlt unter seiner braunen Basketballkappe hervor. „Arbeit hier toll. Geld toll. In Rumänien nix Perspektive.“

Seit zehn Jahren kommt Viorel Colcer, 44 Jahre, als Erntehelfer nach Kressbronn am Bodensee. Von Anfang September bis Mitte Oktober arbeitet und wohnt er zusammen mit sechs weiteren Rumänen auf dem Hof der Familie Mainberger. Den Rest des Jahres ist er in seinem Heimatdorf Damuc Krankenwagenfahrer. Seine fünfköpfige Familie kann er davon nicht ernähren.

Für 300 Tonnen Äpfel sind Helfer nötig

Betriebsleiter Dieter Mainberger dagegen hat zwar mit Frau, Sohn und Eltern eine fünfköpfige Familie, die ihm bei der Ernte hilft. Doch 300 Tonnen Äpfel können sie nicht allein brocken, wie das Pflücken am Bodensee heißt. Seit vierzig Jahren kommen deshalb Erntehelfer auf den Hof. Erst aus Polen, später auch aus Rumänien.

„Als ich noch ein Bub war, kam noch die ganze Verwandtschaft und hat bei der Apfelernte geholfen“, erinnert sich Dieter Mainberger. Der 52-Jährige führt den Familienbetrieb in der zwölften Generation. Vor vierzig Jahren waren die Apfelplantagen noch deutlich kleiner, die Mainbergers hatten auf ihren 15 Hektar Land einen klassischen Mischbetrieb: ein bisschen Obst, ein bisschen Hopfen, ein paar Kühe, eine Schnapsbrennerei. Man musste die Familie mit dem Hof satt bekommen. Blieb dann noch etwas von der Ernte übrig, wurde es an die Nachbarn im Dorf verkauft.

Zeit ist auch in der Landwirtschaft bares Geld

„ Im Jahr 1960 hat ein Bauer 17 Menschen ernährt, heute sind es 129 Menschen“, sagt Stefan Böttinger, Professor für Agrartechnik an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Möglich wurde das durch motorisierte landwirtschaftliche Maschinen. Sie wurden ab der Nachkriegszeit auf immer mehr deutschen Bauernhöfen eingesetzt. „Diese Maschinen erleichtern zwar die Arbeit, sie rentieren sich aber nur bei entsprechend großen Flächen“, sagt Böttinger. Insbesondere für die landschaftlich bedingt kleinflächigen Betriebe in Baden-Württemberg bedeutete das: Sie mussten sich spezialisieren.

Also hat die Familie Mainberger ihre Kühe verkauft und auf den ehemaligen Stall- und Weideflächen noch mehr Apfelbäume gepflanzt. Solche mit kurzem Stamm, „denn die Hochstämmigen hatte man ja, damit die Kühe drunter grasen konnten“, erklärt Dieter Mainberger. Außerdem lassen sich die Äpfel von den kleinen Spalierbäumen ohne Leiter ernten. Das geht schneller. Und Zeit ist inzwischen auch in der Landwirtschaft bares Geld. „Wir bauen die Äpfel ja nicht mehr für den Eigenbedarf an, sondern weil es die Haupteinnahmequelle unseres landwirtschaftlichen Unternehmens ist.“

In vielen Jahren klappt das mit der Haupteinnahmequelle aber nicht mehr. Und das liegt nicht etwa am Wetter, auf das die Bauern so gern schimpfen. „Mit Frost und Hagel bin ich groß geworden, solche Ernteausfälle gehören dazu. Aber die Abhängigkeit von den politischen Entscheidungen, die bricht uns bald das Genick.“

Zu kleine oder blasse Äpfel kann der Bauer nicht verkaufen

Dann stapft Mainberger mit seinen grünen Gummistiefeln und der blauen Latzhose aufgebracht durch seine Plantage und pflückt einen schönen roten Apfel. „Früchte, die der Handel abnehmen soll, müssen bestimmte EU-Vermarktungsnormen erfüllen.“ So ist etwa festgelegt, wie groß der Apfel sein muss, zu wie viel Prozent sich die Schale rot verfärben soll und welche kleinen Schönheitsfehler noch erlaubt sind. Das Exemplar, das Mainberger in der Hand hält, hat nach dem heißen Sommer leichten Sonnenbrand. Verkaufen kann er es deshalb nicht.

In der Region Bodensee werden in diesem Jahr voraussichtlich 90 000 Tonnen Äpfel weniger geerntet als im Vorjahr. Gleichzeitig steigen die Kosten für die Ernte. Dieter Mainberger zeigt auf seinen Erntehelfer Viorel. 7,40 Euro tariflich vereinbarten Stundenlohn muss er ihm seit dieser Saison zahlen. Das ist eine Annäherung an den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Im letzten Jahr waren es noch sechs Euro. Und eigentlich gönnt Mainberger seinen Erntehelfern jeden Cent.

Zwei Euro für die Apfelernte

„Ich war in Rumänien, ich habe gesehen, wie dringend die unser Geld brauchen. Nur wir können es nicht mehr verdienen, wenn wir bei höheren Ausgaben die gleichen Marktpreise für unsere Äpfel kriegen.“

Um zu verstehen, warum Dieter Mainberger seine Äpfel nicht teurer verkaufen kann, muss man einen Ausflug auf den europäischen Apfelmarkt machen. Rund 800 000 Tonnen Äpfel werden in Deutschland pro Jahr geerntet, bei einem Mindestlohn von bald 8,50 Euro. In Polen sind es 3,6 Millionen Tonnen. Ein Erntehelfer verdient dort etwa zwei Euro die Stunde.

Der europäische Markt reguliert den Preis

Ob polnische oder deutsche Äpfel: Der europäische Markt reguliert ihren Preis – und nicht etwa die Kosten, die auf dem Hof der Mainbergers für Hagelschutz, Lagerhaltung oder die Arbeitskraft anfallen.

Dieter Mainberger steigt auf seinen kleinen Traktor und fährt den Erntezug mit den vollen Apfelkisten aus der Plantage. Der Nieselregen benetzt sein Gesicht.

Das Höfe-Sterben geht weiter

„Damit ich meine Produktionskosten trotz Mindestlohn weiter decken kann, müsste ein Erntehelfer wie Viorel nun eigentlich zehn statt fünf Kisten voll Äpfel pro Stunde pflücken.“

Während der Bauer den Apfelzug in die Lagerhalle lenkt, erzählt er von einer Maschine namens Pluk-O-Trak: Über Förderbänder werden damit die geernteten Äpfel in die Kisten transportiert. Das geht deutlich schneller, als sie von Hand hineinzulegen. Zehn statt fünf Kisten in der Stunde könnte man mit Hilfe der Maschine locker schaffen. „Die technischen Möglichkeiten heute sind toll, und man muss in sie investieren, um den Betrieb für die Zukunft fit zu machen. Bloß mit welchem Geld?“

Mainberger schiebt die schwere rote Tür zum Lager auf. Kalte Luft knapp über dem Gefrierpunkt strömt nach draußen. Drinnen stapeln sich haushoch die Apfelkisten. „Mithilfe eines Generators verdängen wir hier laufend Sauerstoff zu Gunsten des Stickstoffs.“ Diese Luftbedingungen sorgen dafür, dass die Äpfel auch im März noch so schmecken, als kämen sie gerade frisch vom Baum. Zumindest dann, wenn man den richtigen Erntezeitpunkt für die Lagerung erwischt hat.

Damit die Bauern im Bodenseekreis diesen Zeitpunkt nicht verpassen, gibt es 30 Kilometer vom Hof der Mainbergers entfernt in Bavendorf bei Ravensburg das Kompetenzzentrum Obstbau-Bodensee. Agraringenieur Daniel Neuwald drückt hier Stempel in das Apfelfleisch, um die Festigkeit zu messen. Er pinselt Apfelstücke mit Jod ein, damit er sieht, wie viel Stärke ein Apfel noch enthält und wie viel bereits zu Zucker abgebaut wurde. „Früher hat man geschaut, ob der Apfel rote Backen hat und leicht vom Ast geht, heute brauchen die Bauern den perfekten Erntezeitpunkt, damit sie ihre Ware in bester Qualität möglichst lange lagern und verkaufen können“, sagt Neuwald.

Eine Chance haben nur noch Haupterwerbsbauern

Etwa die Hälfte seiner 300 Tonnen Äpfel lagert Dieter Mainberger auf seinem Hof ein und vermarktet sie dann selbst. „Dabei verdiene ich mehr Geld, als wenn ich das Obst an den Großmarkt verkaufe. Außerdem nehmen mir die Kunden so auch kleine Äpfel ab, wie sie ein heißer Sommer wie dieser hervorbringt.“ Der Handel dagegen lehne solche Früchte ab. Genauso wie Apfelsorten, die sich nicht schön rot verfärben wie etwa die Rubinette. „Sie schmecken toll. Aber für den Handel zählt eben vor allem die Optik.“

Mainberger schüttelt den Kopf. Es gibt so viele Entwicklungen in der Landwirtschaft, die er nicht nachvollziehen kann. Als Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Tettnang kennt er immer mehr Kollegen, die deshalb das Handtuch werfen.

Das bestätigen auch die Zahlen des Statistischen Landesamtes: 1977 gab es 16 300 landwirtschaftliche Obstbaubetriebe in Baden-Württemberg, 2012 waren es noch 3400. Und das Höfesterben ist längst noch nicht gestoppt. Wie viele die schwierigen Entwicklungen überleben werden, darüber mag der Agrartechniker Stefan Böttinger von der Uni Hohenheim keine Prognose abzugeben – „weil die Zahl zu schrecklich wäre“. Eine Chance räumt er nur den Haupterwerbsbauern ein, die sich entweder auf Sonderkulturen wie Äpfel, Hopfen oder Wein spezialisieren. Oder ihre Betriebsflächen noch weiter vergrößern. „Dort können sie teure Maschinen einsetzen, die bei bestem Wetter noch schneller möglichst viel Getreide ernten können. Das minimiert die Ernteausfälle.“

Der Sohn ist schon in den Familienbetrieb eingestiegen

Für Dieter Mainberger kommt es trotz all der schwierigen Entwicklungen nicht infrage, den Hof aufzugeben. Mit seinem Sohn Florian (26) ist bereits die nächste Generation in den Familienbetrieb eingestiegen. Gemeinsam haben sie neue Züchtungen gepflanzt. Darauf wachsen noch mehr Äpfel, die schön gleichmäßig rot werden und zur gleichen Zeit reif sind. Außerdem haben die Mainbergers Ferienwohnungen gebaut, um in schlechteren Erntejahren eine weitere Einkommensquelle zu haben.

Und dann sind da noch die rumänischen Erntehelfer, mit denen Dieter Mainberger jeden Tag ein Feierabendbier trinkt. Viel geredet wird dabei wegen der Sprachbarriere nicht. Aber ab und zu lässt Viorel seinen liebsten deutschen Satz fallen: „Arbeit hier toll.“