Wenn es im Kampf um den Wahlsieg in Baden-Württemberg so etwas geben kann wie  einen Spielführer bei den  Grünen, dann ist es Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Seine Pässe kommen an, die Partie ist aber längst noch nicht entschieden.

Freiburg/Stuttgart - Weil sich die Politik kurz vor einer Wahl gar nicht so sehr unterscheidet von – sagen wir mal – einem Fußballspiel, ist es klug, wenn die grünen Titelverteidiger nicht allzu viel auf Prognosen geben. Denn hier wie dort gilt unverbrüchlich, dass keiner weiß, wie’s ausgeht. Weshalb sie im Team des Ministerpräsidenten an diesem Morgen mit gedämpfter Freude auf eine Umfrage reagieren, welche die Hoffnung nährt, dass sich die Gegner in den schwarzen Trikots noch viel einfallen lassen müssen, um den Sieg davonzutragen.

Es ist einer dieser Tage, an dem sich die Mannschaften warmlaufen für das große Finale: 13. März, Landtagswahl. „Ankunft um fünfundfünfzig“, ruft Florian Hassler im Freiburger Ballhaus. Personenschützer mit wichtigen Gesichtern sprechen noch rasch ins Revers ihres Anzugs. Es ist 10.56 Uhr, als der Spielmacher kommt. Die freiwillige Feuerwehr nimmt Haltung an, die Bergwacht demonstriert Geschlossenheit. Und Flo, wie sie den Büroleiter des „EmPe“ hier alle nennen, kreist um seinen Chef wie der emsige Hacki Wimmer einst um den großen Günter Netzer.

Die Klage der Ehrenamtlichen

Als nähme der Vorsitzende des Gesamtvereins nach langer Zeit mal wieder an einer Ausschusssitzung teil, wendet sich Winfried Kretschmann (67) mit erwartungsvoller Miene an die 70 geladenen Gäste. Allesamt Ehrenamtliche. Tisch um Tisch. Stimme um Stimme. Es geht wie immer ums Geld und wie so häufig um den urdeutschen Hang, die Dinge unnötig zu verkomplizieren. „Wie oft wird die Bergwacht denn gerufen?“, will der Ministerpräsident wissen. „Fast täglich“, erwidern sie im Chor. Und weil das so ist, drehen sie die Hosentaschen sinngemäß nach außen. „Herr Kretschmann, wir sind chronisch unterfinanziert.“ So wie die Feuerwehr, das DRK, die Bergwacht und natürlich auch der Freiburger FC.

Der Stargast runzelt die Stirn, nippt kurz an seinem Wasser und ringt sich ein Lächeln ab. Ein Landwirt und Winzer aus Freiburg-Tiengen, eigenen Angaben zufolge als Feuerwehrmann geboren, beklagt lauthals die Bürokratie beim Spargelstechen. Für alles gibt es halt eine Vorschrift. Und alles will der deutsche Michel haargenau dokumentiert haben. „Ja, wann“, fragt er verzweifelt, „soll ich da noch was schaffa?“

Gute Frage. Nächste Frage. Winfried Kretschmann hält noch ein Hochamt auf die ehrenamtliche Tätigkeit, preist die Vorzüge grün-roter Regierungspolitik und versichert zum Abschied wie der freundliche Herr von der Bausparkasse, dass er „das alles mitnimmt“. Nur wohin, das weiß er nicht so richtig, wie er später im Fond seines Dienstfahrzeuges ein wenig zerknirscht bekennt. „Wissen Sie“, erklärt er mit heiserer Stimme, „große Teile unserer Bürokratie sind der Ausfluss gerichtlicher Urteile.“ Aber die Diskussion, was Ehrenamtlichen alles zugemutet werde, sei zwingend zu führen.

So ein Blödsinn

Es geht zu einem kurzen Mittagessen in ein Gasthaus in Oberried, wo die Kellnerin offenbar an eine Erscheinung glaubt, als der Landesvater über die Schwelle tritt. Zum Nachtisch noch ein Interview für die ARD und die knappe Antwort auf die Frage, ob er sich eine Kanzlerkandidatur vorstellen könne: „So ein Blödsinn . . .“

Weil es ja nicht so ist, dass sich ein Politiker stündlich neu erfindet, erzählt er wie noch öfter an diesem Tag vom 70 Jahre währenden Frieden in der Kernregion Europas, vom wachsenden Wohlstand und von der subtilen Verflechtung des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg im Schengen-Raum. „Sollte Europa scheitern“, ruft er am späten Abend im Karlsruher Tollhaus, „dann wäre das eine epochale Katastrophe.“ Als müsse er die Wirkung seiner Worte noch verstärken, hält er kurz inne und gibt dann zu bedenken: „Für uns als exportorientiertes Bundesland hätte es schlimme Folgen, wenn die Grenzen wieder hochgezogen würden.“

Der Konjunktiv hat Konjunktur in diesen Zeiten, weil die Probleme um die Flüchtlinge die Stimmung so unzweifelhaft trüben wie Giftwolken das Blau des Himmels. Hätte, könnte, wäre, dürfte, müsste. „Wenn man eine Krise planen könnte, gäbe es sie nicht“, ruft er. Das Publikum schmunzelt und versteht: Es gibt Probleme, die sich nicht von jetzt auf nachher beheben lassen.

Rote Karte!

Kretschmann, der pragmatische Humanist, wiederholt sein Mantra aus Bitten um Geduld, Toleranz, Fairness und christlicher Ethik so eindringlich wie ein Trainer die Taktik in der Mannschaftssitzung. „Auch der Fremde ist unser Nächster.“ Er wettert gegen die Kaskaden rabiater Äußerungen in den sozialen Netzwerken, saugt noch einmal tief Luft ein und klagt: „Kein anständiger Mensch würde solche Sachen sagen. Dem müssen wir uns mit aller Leidenschaft widersetzen.“ Rote Karte!

Weil er die gelinden Zweifel spürt in den Sälen, Turnhallen und Hinterzimmern, schiebt er seine Empörung nach – über die Geschehnisse in der Silvesternacht in Köln. „Das war kriminell. Das darf man auch sonst nirgendwo auf der Welt.“ Kretschmann postuliert den wehrhaften Staat und fordert: „Da müssen wir klare Kante zeigen. Auch gegen jene, die Brandsätze auf Unterkünfte von Asylbewerbern schleudern.“

Er sagt dös statt das, isch statt ist. Er redet klug, aber nicht belehrend. Er präsentiert sich selbstbewusst, dabei nicht überheblich. Nie wirkt er wie ein Abziehbild seiner Wahlkampf-Strategen. Kretschmann ist sich selbst. Und gelegentlich bedient er sich der feinen Klinge der Ironie. „Außer im Fußball“, feixt der VfB-Fan, „ist Bayern nirgendwo besser. Und das kriegen wir auch noch hin.“

In der falschen Partei?

In Karlsruhe, vor 500 Gästen, erntet er tosenden Beifall. In Staufen im Breisgau spenden 800 Zuhörer in der proppenvollen Turnhalle zwischen Basketballkörben und Turnmatten kräftigen Applaus. Der Musikverein spielt zum Abschied das Badnerlied. „Optimal wär’s halt“, quäkt ein örtlicher Handwerksmeister, „wenn er in der CDU wär’.“

Kretschmann ist aber grün, ziemlich populär und schlau genug, bei manchen Fragen den Notausgang zu nehmen. Warum die Landesregierung nicht dafür sorge, dass der uralte Atommeiler in Fessenheim endlich stillgelegt werde, fragen sie in Staufen. „Weil wir das nicht können“, erwidert Kretschmann, „Frankreich ist ein souveräner Staat. Da haben wir keine Einflussmöglichkeiten.“ Weil er noch immer in ungläubige Gesichter guckt, setzt er nach wie ein Abstauber-König im Fünf-Meter-Raum: „Das müssen Sie mir jetzt einfach glauben!“

In Staufen glauben sie ihm viel, aber eben auch nicht alles. Und das ist gut so, sagt der Chef einer Regierung, die nahe bei den Leuten sein will. Bürgerschaftliches Engagement und zivilisierter Streit hielten eine demokratische Gesellschaft zusammen. Da passt es ganz gut, dass er an dieser Stelle ein bisschen über die Bundesbahn schimpfen kann und die „menschenunfreundliche Planung“ auf der Rheintaltrasse. „Dann kommen sie zur Landesregierung und sagen: Wenn ihr eine bessere Planung wollt, dann müsst ihr das bezahlen.“ 280 Millionen Euro gibt das Land dazu, nur eben, dass man gar nicht zuständig sei, empört sich der Ministerpräsident: „Das Geld fehlt uns dann aber dort, wo wir zuständig sind.“

Schon hat sie sich eingeschlichen, die ewig quälende Frage: Wie ökonomisch ist eigentlich ökologisch? Der Realpolitiker antwortet darauf mit der empirischen Erhebung seiner selbst. Er sei es schließlich gewesen, sagt Kretschmann und tippt sich auf die Brust, der als erster Ministerpräsident eine Regierungserklärung zu den Folgen der digitalen Revolution abgegeben habe. Und als hätte er das Smartphone persönlich erfunden, erzählt er von seinem Besuch im Silicon Valley. „Von 20 IT-Riesen auf der Welt ist nur einer aus Europa“, tönt der Landeschef, „der ist aber Gott sei Dank aus dem Ländle: SAP!“

Ökologisch und ökonomisch

Dann adelt er stolz Baden-Württemberg als Standort für Industrie, Hochtechnologie und Wissenschaft. Als Hort des flexiblen Mittelstandes und als innovativste Region Europas. Und weshalb, werte Sportsfreunde aus der Opposition, sollten sich denn grüne Gedankenwelten nicht mit den Vorstellungen einer prosperierenden Wirtschaft vertragen können? „Wir müssen beweisen, dass grüne Produktlinien nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich sein können“, fordert der Spitzenkandidat der Grünen zur Landtagswahl, „dann werden uns andere Länder folgen.“ Baden-Württemberg als Schrittmacher für die Chinesen? Da rutschen die Zuhörer auf ihren Stühlen ein Stückchen weiter nach vorn: Ja, sind wir jetzt beim Wirtschaftsrat der CDU?

Er sagt: „Bevor ich jetzt zum Schluss komme . . .“ – und redet eine halbe Stunde weiter. Herrje, wird er denn nie müde? Über die Bedrohung durch den Klimawandel, über eine Herzensangelegenheit wie den Nationalpark Schwarzwald und über die umstrittene Bildungspolitik seiner Regierung. „Da ist natürlich jeder ein Experte, weil er ja selbst zur Schule gegangen ist.“ Aber was ist eigentlich passiert? Die Grundschule bleibe erhalten, die Gemeinschaftsschule sei kein Muss, und die Realschule wie auch das Gymnasium habe man gestärkt. „Die Gesellschaft ändert sich, da können wir doch nicht einfach weitermachen wie bisher.“ Und weil ihn als ehemaliger Lehrer sowieso so einiges aufregt, erzählt er, dass es Schulen gibt, die den Helikopter-Eltern schon Küss-Verbotszonen auferlegt hätten. „Bis hierher muss ihr Kind geküsst sein.“

Es sei halt so, erlaubt Kretschmann einen Blick in seine Wiederwahl-Taktik, dass man im Wahlkampf alles ein bisschen zuspitze. Aber nie hat der grüne Spielführer seine Gegenspieler weggegrätscht. Vielleicht mal am Trikot gezupft, ein bisschen gerempelt. Anstand ist für ihn keine Worthülse – und manchmal knurrt ihm der Magen: Nach sechs Terminen und einem ellenlangen Tag kaut er auf einer kalten Pizza Salami. Ernährungsphysiologisch eine Sünde, aber eine, die er sich leisten kann. Neulich musste er während einer Rede im Landtag sogar das Beinkleid neu sortieren. „Oh Gott, jetzt rutscht mir auch noch die Hos’.“ Das hat ihm ein Filmchen auf You Tube eingetragen.

Wie vor einem großen Spiel

Jetzt spricht er dem Sport-Reporter noch rasch ein kurzes Interview in die Videokamera. Nächtens, irgendwo auf einem Parkplatz an der A 5. „Wenn ich mein Enkelchen auf dem Arm habe“, sagt der Landes(groß)vater und blinzelt mit glänzenden Augen ins fahle Licht, „dann sind die Politik und der Wahlkampf weit weg.“ Und weil es bei ihm so ganz ohne Hannah Ahrendt nicht geht, zitiert er seine Lieblingsphilosophin und die Verschiedenheit der Menschen als Grundlage der Politik. „Es kann immer etwas Neues geschehen, auch ein Wunder“, sagt er, „denken Sie nur an die deutsche Wiedervereinigung und an den Fall der Mauer.“ Oder an weitere fünf Jahre mit einem grünen Ministerpräsidenten? Der Reporter denkt, dass es vor Wahlen ist wie vor einem großen Spiel: Wer da nicht an den Coup glaubt, hat schon verloren.