Illustration: Lange

Mit kühler und unaufgeregter Art: Der Spitzenkandidat der SPD, Nils Schmid, im Porträt.

Stuttgart - Man unterschätzt ihn gern: Nils Schmid wirkt mit seiner kühlen, unaufgeregten Art nicht wie der typische Herausforderer. Der SPD-Spitzenkandidat ist kein Polterer, doch er kann sehr wohl austeilen - und baut auf die Kraft der Argumente.

Zwischen Öhringen und Mulfingen ruft Tülay an. Seine Frau hat einen Unfall gebaut. Zu Hause in Nürtingen. Nichts Schlimmes, aber das Auto ist demoliert. "Nein, wir können uns jetzt nicht sehen", redet Nils Schmid beruhigend ins Smartphone, "ich muss doch zu meinen Terminen." Er gibt ihr noch ein paar Ratschläge, dann steuert sein Fahrer bereits den Firmenparkplatz an.

"Meist hilft es schon, einfach die Nerven zu behalten", sagt er beim Aussteigen, und das klingt keineswegs nach einem Stoßseufzer. Eher nach einem Lebensmotto. Schmid hat gute Nerven. Sonst hätte er sich nicht auf das Wagnis eingelassen, SPD-Vorsitzender in Baden-Württemberg zu werden. Die Spitzenkandidatur, das wusste er, gab's quasi als Dreingabe.

Er wollte es so. Doch die Familie leidet darunter, das spürte der Vater einer 14 Monate alten Tochter und eines 19-jährigen Sohnes seit ein paar Wochen. Morgens Stuttgart, mittags Mulfingen, nachmittags Mosbach, abends Heilbronn. So sieht sein Terminkalender aus. Und das siebenmal die Woche. Man muss ein Wahlkampf-Junkie sein, um das zu genießen.

Als Jugendlicher zu Hause in Filderstadt hat er sich manchmal ein Fernsehgerät geliehen, weil die Familie keines besaß. Erst hat er "Bonanza" geguckt, dann den Wecker auf 3 Uhr früh gestellt: Michael Dukakis gegen George Bush. Nein, kein Boxkampf, sondern amerikanische Präsidentschaftswahl 1988. Natürlich hat er Dukakis angefeuert, den Demokraten, den Sozialdemokraten. Bush hat trotzdem gewonnen.

Im Konferenzraum des Mulfinger Unternehmens sitzt die Geschäftsführung, und Schmid hört erst einmal zu. Er ist selten laut, schon gar nicht vorlaut, sondern legt jene sanft-verbindliche Art an den Tag, die dazu verleitet, dass man ihn unterschätzt.

"Niemand darf auf der Strecke bleiben"

Die Firma heißt ebm-papst, stellt Ventilatoren her und ist einer jener kraftstrotzenden Mittelständler, die das weite Hohenloher Land prägen - nicht gerade eine Gegend, aus dem die SPD im Land ihre Stimmen schöpft. 2006 reichte es hier gerade für 21 Prozent. Doch der Kandidat predigt unverdrossen seine Kernthemen: Bildung und Betreuung.

Es dauert nicht lange, der Vorstandschef redet gerade von Fachkräftemangel, da hakt Schmid ein: "Sie sind eine halbstädtische Region, wo das Thema Kinderbetreuung und Integration genauso wichtig ist wie in den Städten." Die Manager nicken und hören interessiert zu, wie der 37-Jährige ihnen erklärt, warum er das Schulsystem im Land für rückständig hält.

Man müsse um jedes Talent kämpfen, niemand dürfe auf der Strecke bleiben, sagt er. Aufsteigen, nach oben kommen, Erfolg haben, das soll allen gelingen. Das ist seine Botschaft. Indirekt erzählt er damit seine eigene Geschichte, die Geschichte eines Aufstiegs. Die Eltern waren Heimatvertriebene, bauten sich am Rand der Alb eine Existenz auf. Die Mutter studierte als erstes Mädchen der Familie, wurde Lehrerin, später Professorin. Der Vater ist Beamter beim Zoll.

Das riecht nicht eben nach Sozialdemokratie - genauso wenig wie der Kandidat im schwarzen Anzug wie ein Arbeiterführer wirkt. Aber gab es die je in Baden-Württembergs SPD? Schmid buchstabiert seine Partei anders: als Heimat für alle, die es zu etwas bringen wollen. "Man soll sagen, der Schmid ist einer, der den Bildungsaufstieg aus eigener Erfahrung kennt."

Im Abitur eine 1,0 ("Das trau' ich mich gar nicht zu sagen"), dann Prädikatsexamen in Jura, Promotion, mit 24 jüngstes Mitglied im Landtag. Letzteres war Zufall, weil der langjährige Abgeordnete des Wahlkreises plötzlich starb. Ohne Politik wäre er wohl an der Hochschule geblieben. Oder Diplomat geworden. Französisch spricht er perfekt. Das hat er schon als Jugendlicher gelernt, als er bei seinem französischen Freund in den Ferien Western guckte. "Da musste man gar nicht alles verstehen, man hat ja gewusst, wer gut und böse war."

Gut und böse. Dukakis und Bush. Schmid und Mappus. So hätte er die Konstellation auch gern in seinem Wahlkampf. Doch das ist nicht mehr so einfach, seit die Grünen mit ihrem Vormann Winfried Kretschmann in Umfragen besser abschneiden. Auf die Plakatekleber und anderen Wahlhelfer wirkt das nicht gerade beflügelnd.

Am liebsten hätte er die Umfragewerte vom Juli 2010 festgeschrieben, als die Roten bei 24, die Grünen bei 25 Prozent lagen. Doch dann kam Stuttgart 21 und seine Entscheidung, das Bahnprojekt dem Volk zur Abstimmung vorzulegen.

Den Ruf eines Wankelmütigen

Seither steht er im Ruf des Wankelmütigen, des Zwitters, der keinen Platz mehr hat zwischen S 21 und K 21, zwischen Mappus und Kretschmann, zwischen Gut und Böse, je nach Sichtweise. Doch hatte er eine Alternative? Ohne diesen dritten Weg hätten die Genossen das Bahnhofsprojekt über Bord geworfen - und ihren jungen Vorsitzenden gleich mit dazu. Schmid ist froh, dass sich das Thema nun verflüchtigt. Jetzt hätten die Menschen den Kopf frei für Wichtigeres, sagt er. Für SPD-Themen wie Bildung zum Beispiel.

Die Umfragen spiegeln das bislang nicht wider. Nach wie vor krebsen die Genossen bei 20 Prozent. Schmid, er hat eine Schwäche für Zahlen, hilft sich mit Arithmetik darüber hinweg: "Solange wir im Bund zwischen 22 und 27 Prozent hängen, was soll ich da im Land holen?"

Fünf Prozentpunkte liege der Südwesten immer hinter dem Bund, das sei eine einfache Mechanik. Doch vielleicht verleiht ja die erfolgreiche Hamburg-Wahl der SPD neuen Schwung. "Das Wichtigste ist", meint er, "dass man uns zutraut, stark zu sein und zu regieren."

Doch was, wenn er tatsächlich mit 19 Prozent am Wahlabend dasteht? Ist er dann weg vom Fenster wie Ute Vogt, seine Vorgängerin? "Ich hab' immer gesagt, dass das eine langfristige Aufgabe ist", sagt er und fügt leise hinzu: "Man weiß aber nie, was die Partei macht." Bei 19 Prozent würden wohl Zweifel laut. Doch er unterbricht sich: "Aber wir kriegen mehr als 19 Prozent." Dann sagt er Wörter wie Wechselstimmung, Chance, Machtperspektive.

"Bildung hat Priorität, wenn wir regieren, alles andere muss zurückstehen", ruft er bei einer Wahlveranstaltung in Mosbach, als einer fragt, wer die vielen Versprechungen denn bezahlen soll. Der Beifall ist lebhaft. Viel Mappus-Schelte, kräftig Soziales, eine Prise Öko: Der Kandidat hat seine kämpferische Rede vom jüngsten Parteitag auf handliches Format zurechtgestutzt. Die Grünen kommen darin nicht vor. "Wir erheben den Führungsanspruch, auch wenn die vor uns liegen", sagt er später im Auto. Sein Hauptgegner heißt Mappus, dessen Widerpart will er sein.

Aber nimmt der Wähler diese Polarität wahr? Schmid hebt auf seinen Politikstil ab, der so verschieden sei von dem des Kontrahenten. Einbinden, diskutieren, mitnehmen - dafür muss er sich nicht verstellen. Er poltert nicht. Wer das als Harmlosigkeit wertet, irrt. Schmid setzt eher auf Nadelstiche als auf den Rammbock. Deshalb spielt er auch gern auf den Kauf der EnBW-Aktien an, den Mappus mit Hilfe eines befreundeten Bankers eingefädelt hat: "Das ist kein waffentaugliches Thema, CDU-Filz aber sehr wohl." Ein kleiner Baustein im Kalkül des Prädikatsjuristen. Ob es aufgeht?

Zwischen Mosbach und Heilbronn ruft Tülay wieder an, seine Frau. Als er fertig ist, sagt er unvermittelt: "Gott sei Dank gibt noch was anderes als Politik."