Die beiden Männer stehen vor dem Landgericht Stuttgart. Foto: Symbolbild/dpa

Zwei Männer überfallen in Sindelfingen das falsche Opfer. Die Hintergründe sind rätselhaft, die Spur führt ins Rockermilieu. Diesen Prozess hätte ein Fernsehregisseur nicht aufwendiger organisieren können – und nicht dramatischer.

Stuttgart - Draußen vor dem Eingang des Landgerichts Stuttgart verhindern drei Dutzend Polizisten, dass zwei Gruppen von Männern aufeinander einprügeln. Drinnen im Saal eins beklagt der Verteidiger Markus Bessler, dass bewaffnete Beamte die Aussage des Opfers überwachen. „Einen konkreten Anlass für ein solches martialisches Auftreten kann ich nicht erkennen“, sagt der Jurist. Tatsächlich steht der Mann, der von Bewaffneten überfallen wurde, unter Zeugenschutz. Am Ende seiner Aussage spricht er die beiden Angeklagten vor Gott frei. Dabei bricht er in Tränen aus.

Diesen Prozess hätte ein Fernsehregisseur nicht aufwendiger organisieren können – und nicht dramatischer. Vordergründig ist der Fall vergleichsweise unspektakulär. Im September vergangenen Jahres waren zwei Männer in eine Wohnung in Sindelfingen (Kreis Böblingen) eingedrungen. Sie hatten eine Pistole dabei, forderten 10 000 Euro und eine Frau. Außerdem wollten sie wissen, wo Drogen sind. Zwei Stunden lang prügelten sie immer wieder auf den Mann ein, der ihnen die Tür geöffnet hatte. Allerdings war ihr Opfer nicht derjenige, den sie suchten, sondern sein Cousin. Die eigentliche Zielperson des Überfalls war in München. Die Täter nahmen mit, was ihnen wertvoll schien. Ein paar Tage später schlugen acht Pistolenkugeln in der Wohnung ein, abgefeuert von der Straße aus. Wieder war nur der Cousin des eigentlichen Bewohners zu Hause.

Hintergründe müssen noch erhellt werden

Zumindest am ersten Prozesstag, an dem die beiden Vettern aussagen, herrscht höchste Sicherheitsstufe. Polizisten umzingeln das Landgericht. Wer in den Saal will, wird durchsucht. Selbst ein gebrechlicher Rentner muss seine Schuhe ausziehen, weil sich in seinen Socken Waffen verbergen könnten. Den Aufwand begründet, dass die beiden Täter hatten wissen lassen, sie seien im Auftrag der Osmanen gekommen. Die Osmanen Germania sind eine türkischstämmige Rockergruppe, die im Verdacht steht, eine kriminelle Vereinigung zu bilden, und immer wieder Ziel von Ermittlern ist.

Die Hintergründe des Überfalls wird das Gericht erhellen müssen. Zumindest steht der Verdacht im Raum, dass Ursache der Tat ein Streit verfeindeter Rockergruppen sein könnte. Die Zutaten passen ins Milieu. Die beiden Cousins riefen erst Tage nach dem Überfall die Polizei. Stattdessen eilten aus München per Handy herbeigerufene Freunde in die Wohnung. Die Frau, nach der die Täter fragten, war eine Prostituierte, die ebenfalls zeitweise in jener Wohnung lebte. Der Cousin des Opfers ist wegen Drogenhandels vorbestraft. „Das ist Vergangenheit“, sagt er, und jener Bekannten habe er einige Wochen Obdach gewährt, weil sie darum gebeten habe. Die Frau selbst hatte sich in Vernehmungen widersprochen. Mal sagte sie, ihr Mitbewohner habe sie beschimpft, weil sie zu wenig Hurenlohn heimgebracht habe, mal, dass er nicht ihr Zuhälter gewesen sei.

„Meine Karriere ist kaputt“

Fest steht: Den Ermittlern ist es nicht gelungen, eine Verbindung der Cousins zu Rockern nachzuweisen, und aus Sicht des Hauptangeklagten ist der Überfall unstrittig. Er hat ihn weitgehend gestanden und sich beim Opfer entschuldigt. Der zweite Angeklagte schweigt. Selbst Angaben zu seinem Lebenslauf verweigert er.

Das Opfer schwimmt in diesem Prozess wie ein Öltropfen in einem Wasserglas. Der schmächtige Tunesier ist Ingenieur, tief religiös und hoch gebildet. Seine Oberschenkel messen kaum mehr als die Oberarme der anderen Beteiligten. Von den Osmanen, sagt er, „habe ich nie gehört, außer im Geschichtsunterricht über das Osmanische Reich“. Seit drei Jahren lebt er in Deutschland. Nur gelegentlich muss ein Übersetzer ihm bei seiner Aussage helfen. Zur Zeit des Überfalls hatte er Arbeit gefunden. Er überstand die Probezeit nicht, wegen zu vieler und zu teurer Fehler. „Meine Karriere ist kaputt“, sagt er. Er kann nicht mehr schlafen, sich nicht mehr konzentrieren und lässt sich therapieren. Ein Psychiater hat ihm ein Trauma attestiert. Die Ursache dürfte unstrittig sein. Er erwacht jede Nacht um kurz nach 1 Uhr, zur Tatzeit.