Neues Konzerthaus bei Paris: La Seine Musicale Foto: Laurent Blossier

Auch Boulogne-Billancourt westlich von Paris hat jetzt einen neuen Konzertsaal bekommen, ebenso wie jüngst Hamburg, Bochum, Blaibach, Katowice und wie demnächst Weikersheim und München. Ein Modell für Stuttgart?

Paris - Und noch ein Dampfer. Wie die Elbphilharmonie gleicht auch das neueste Konzertgebäude Frankreichs einem Schiff, wie in Hamburg liegt auch das westlich von Paris auf der Ile Séguin gelegene Gebäude im Wasser und ist Teil eines neu entstehenden Stadtteils. La Seine Musicale heißt der Komplex, dessen weiße, vorne spitz zulaufende Seitenwände man schon von weitem sehen kann. Er umfasst eine große Halle („La Grande Seine“), die vor allem für Popkonzerte geeignet ist und bis zu 6000 Besucher fasst, sowie einen 1150-Plätze-Saal, der eine Heimat für klassische Musik sein soll. Wabenförmige Wände aus 1700 individuell gewellten Kiefernholzstücken prägen das Innere des „Auditoriums“ mit seiner zentralen Bühne und seinen umlaufenden Rängen; von außen ist die kugelrunde Fassade mit Glas verkleidet, und auf Gleisen wandert ein mit Solarzellen bestücktes Fotovoltaik-Segel je nach dem Stand der Sonne außen um das Gebäude herum.

Jean de Gastines und Shigeru Ban haben das weiße Schiff mitsamt seinem beeindruckenden kugelförmigen Aufbau entworfen – Ban kennt man unter anderem auch als Architekten des Centre Pompidou in Metz. In nur drei Jahren wurden unter der Aufsicht des Duos 36.500 Quadratmeter überbaut. 170 Millionen Euro hat das Gebäude gekostet, in dem jährlich etwa 300 Veranstaltungen stattfinden sollen, und La Seine Musicale darf sich rühmen, Frankreichs erster von Sponsoren und der öffentlichen Hand gemeinsam finanzierter Konzertsaal-Komplex zu sein. Er soll das Flaggschiff einer Region sein, die sich gerade rasant verändert: ein Ort der Kultur als Zentrum eines neuen Viertels. So wie das ein Konzerthaus im neuen Stuttgarter Rosensteinviertel sein könnte.

Kulturtempel auf dem ehemaligen Areal des Autoherstellers Renault

Zugegeben: Noch ist das Areal in der direkt an die französische Hauptstadt angrenzenden Stadt Boulogne-Billacourt eine Baustelle. Etwa eine halbe Stunde braucht man mit der Métro vom Pariser Zentrum hierher, und zwischen Bauzäunen und schicken Apartmenthäusern, zwischen neu gepflasterten Straßen und matschigen Zufahrten muss man seinen Weg noch suchen. Bis 2005 hat hier die Autofirma Renault gut 900.000 Autos gefertigt, Billancourt war ein Arbeiter- und Kommunistenviertel. Vor gut drei Wochen ist Bob Dylan bei der Eröffnung der Seine Musicale aufgetreten. Seither ist das weiße Schiff vom Anker, und dass die Programmplaner des Hauses mitnichten darauf setzen, Pariser Publikum aus der Metropole in die Peripherie zu locken, sagt genug aus über die neuen Bewohner der direkten Umgebung. So wie neue Straßen Autos anziehen, sollen auch die neue Konzertsäle Magnete sein: für Musiker und für ein neues Publikum. Das kommt aus der Region. Sollen die Menschen aus dem Nordosten von Paris doch getrost in die (erst 2015 eröffnete) Neue Philharmonie in der Cité de la Musique gehen: La Seine Musicale konzentriert sich auf den Südwesten der Metropole.

Besucher lockt man hier auch mit überaus moderaten Preisen. Fünf Euro kostet bei normalen Konzerten im Auditorium ein Ticket der günstigsten Preiskategorie, zehn im Falle von Musiktheater – also auch für das Spektakel, mit dem die katalanische Regietruppe La Fura dels Baus, angeleitet von Carlus Padrissa, ihre neueste Produktion vorstellte: eine szenische Fassung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“.

Im leicht hochgefahrenen Graben sitzt dabei das eigens als Residenzensemble im neuen Konzerthaus gegründete, mit historischen Instrumenten bestückte Insula Orchestra, in dessen großzügige Probesäle man vom Foyer aus hinunterschauen kann. Zumal bei der Vermischung von Bläser- und Streicherklängen beweist das Auditorium hohe Qualitäten: Da knallt nichts heraus, und im Vergleich zur trockenen und fast überpräsenten Elbphilharmonie schätzt man hier die Gnade einer weichen Akustik, die nicht jedes noch so periphere Ereignis auf dem Silbertablett serviert.

Wohnzimmeratmosphäre für gut 1000 Zuhörer

Außerdem ist man sehr nahe dran am musikalischen Geschehen. Das hat fast ein bisschen Wohnzimmeratmosphäre – also eben das, was sich (nicht nur) der Leiter der Internationalen Bachakademie für Stuttgart wünscht. Vor allem um die Übertragung von Energie, so Hans-Christoph Rademann, müsse es auch bei einem neuen Konzertsaal in Baden-Württembergs Landeshauptstadt gehen. Seine Kollegen bei den Stuttgarter Philharmonikern, beim SWR-Symphonieorchester oder beim Staatsorchester dürften da ganz bei ihm sein, und geht die Entwicklung zurzeit weg von den 2000-Besucher-Arenen aus Zeiten, in denen noch weniger Veranstalter um das Klassik-Publikum konkurrierten. Stattdessen liegen Säle für gut 1000 Zuhörer im Trend. Klassische Musik, behaupten viele, sei nur dann ganz weit weg, wenn der Raum dies befördert. Oder, noch deutlicher: Auch Säle sorgen mit dafür, dass aus Besuchern Beteiligte werden. Hingerissene, Fans.

In Boulogne-Billancourt befördert die Chefdirigentin des Orchesters, Laurence Equilbey, Konzentration und straffes Fortschreiten, und auch ihr Accentus-Chor präsentiert sich so überzeugend, dass man über ein paar Koordinationsprobleme hinweghören kann. Vielleicht trägt an denen auch der sehr breite, schmale Graben eine Mitschuld.

La Seine Musicale könnte auch für Stuttgart eine Blaupause sein

Die Szene ist problematischer: Carlus Padrissa definiert den Chor als Flüchtlingsgruppe, deren Leben hier offenbar irgendwie neu geschaffen werden soll; dekorative Videos und politisch korrekte Parolen werden auf einen Gazevorhang projiziert, und die Solisten – Mari Eriksmoen, Daniel Schmutzhard, Martin Mitterrutzner – schreiten entweder in fantastischen Kostümen einher oder hängen armwedelnd von einem Gestell herunter oder schwimmen vor und zwischen ihren Solo- und Duoszenen in einem Aquarium herum. Das Ganze ist eine ebenso platte wie schick wirkende Bebilderung mit einer dekorativ missbrauchten, klein geschrumpften Version der aktuellen Flüchtlingstragödie, die einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Vergessen wir’s. Und schauen in ein, zwei Jahren nach, ob Kultur und Städtebau in Boulogne-Billancourt weiter ineinandergewachsen sind. Dann könnte La Seine Musicale eine Blaupause sein – vielleicht sogar für Stuttgart.

Termin „Die Schöpfung“ mit La Fura dels Baus und dem Insula Orchestra ist 1. und 2. Juni bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen zu sehen

Konzerthaus Das Programm von La Seine Musicale: www.laseinemusicale.com