Präsident Erdogan strebt nach Meinung von Kritikern rasche Neuwahlen an und will bis dahin die legale Kurdenpartei HDP politisch kleinkriegen Foto: AP

Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Friedensprozess mit der kurdischen PKK aufgekündigt. Viele Türken befürchten nun die Rückkehr der gewalttätigen 1990er Jahre – als der Konflikt zwischen der Armee und den Kurden seinen Höhepunkt hatte.

Istanbul - Ziya Sarpkaya ahnt nichts von der Gefahr, die ihm droht. Der 27-jährige türkische Soldat nutzt einen freien Vormittag für Besorgungen. Zur Bank wolle er, sagt Sarpkaya am Handy seinem Vater. Der junge Türke ist in Semdinli stationiert, einer kurdischen Stadt im Dreiländereck von Türkei, Iran und Irak im äußersten Südostanatolien.

Lange war es in Semdinli einigermaßen ruhig, doch seit dem Tod von 32 linken und kurdischen Aktivisten beim Anschlag von Suruc vor wenigen Tagen wachsen die Spannungen im Land wieder. Sarpkayas Vater hört am Handy mit, wie sein Sohn am Geldautomaten mit einem Unbekannten spricht. Dann fällt ein Schuss, die Verbindung bricht ab. Der Unbekannte hat seinem Sohn in den Kopf geschossen. Wenig später stirbt der junge Sarpkaya im Krankenhaus.

Das Land schaltet wieder zurück auf Gewalt, Druck und Angst

Eine friedliche, stabile und wohlhabende Türkei schien im letzten Jahrzehnt zum Greifen gerückt nahe zu sein, nach Jahrzehnten der Gewalt zwischen Türken und türkischen Kurden hofften die Menschen auf eine glückliche Zukunft. Doch innerhalb weniger Tage macht die Türkei nun ihre Fortschritte bei Demokratisierung und gesellschaftlichem Ausgleich wieder zunichte – unvermittelt schaltet das Land wieder zurück auf Gewalt, Druck und Angst. Und die Türken fragen sich: War alles nur ein Traum?

Die Regierung schickt Kampfjets gegen Kurden, Anhänger der PKK, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei, ermorden Soldaten und Zivilisten, in den Städten müssen die Menschen mit der Angst vor Anschlägen leben, Politiker rufen nach Parteiverboten und strafrechtlicher Verfolgung von Volksvertretern.

Fast über Nacht findet sich die Türkei in der Atmosphäre der gewalttätigen 1990-er Jahren wieder, als der Krieg zwischen der Armee und der PKK seinen Höhepunkt erlebte und als es jeden Tag neue Todesopfer zu beklagen gab. Es ist, als hätte es die EU-Reformen, die politische Öffnung, den demokratischen Aufbruch und die Versuche zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonflikts nie gegeben. „Der Traum ist ausgeträumt“, sagt Meral Cildir, die stellvertretende Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsverbandes IHD. „Alle sind jetzt aufgewacht.“

Zurück zum Status Quo zu Beginn des Waffenstillstands

Mit dem 20. Juli, dem Tag des Bombenanschlags auf eine Versammlung kurdischer Studenten in Suruc, habe eine neue schlimme Zeit begonnen in der Türkei, sagt Cildir. „Wir befürchten, dass alles noch schlimmer wird als in den 1990er Jahren.“ Der Mordanschlag auf den Soldaten Sarpkaya in Semdinli trägt die klare Handschrift der PKK, die in den letzten Tagen mehrere Polizisten und Soldaten erschossen hat. Nicht nur die Gewalt der PKK erinnert an dunkle Zeiten, sondern auch die Reaktion des Staates. In Semdinli rattern nach dem Mord an Sarpkaya die gepanzerten Fahrzeuge durch die Straßen, während Militärhubschrauber im Tiefflug über die Stadt donnern. Der türkische Staat und die PKK machen einfach dort weiter, wo sie beim Beginn des Waffenstillstandes im Jahr 2013 aufgehört haben.

Viele in der Türkei glauben, Präsident Recep Tayyip Erdogan begreife den Terroranschlag in Suruc als Chance, um nicht nur gegen die Islamisten, sondern vor allem gegen die Kurden vorgehen zu können. Der Präsident hat demnach die neue Konfrontation bewusst geschürt, um auf diese Weise die Wahlschlappe seiner Partei AKP vom Juni auszubügeln. Bei der Wahl hatte die AKP ihre Mehrheit im Parlament nach mehr als 12 Jahren an der Macht verloren. Nun strebt Erdogan nach Meinung von Kritikern rasche Neuwahlen an und will bis dahin die legale Kurdenpartei HDP politisch klein zu kriegen: Wenn die HDP, die im Juni 13 Prozent der Stimmen erhielt, unter zehn Prozent rutscht und aus dem Parlament ausscheiden muss, schnellt die Zahl der Sitze für die AKP nach oben. Wenn der Plan funktioniert, kann Erdogan dann vielleicht doch noch das von ihm propagierte Präsidialsystem in der Türkei einführen.

Viele glauben, Erdogan nutzt den Anschlag für seine politischen Zwecke

Dennoch. Obwohl die Türkei in längst überwunden geglaubte Zeiten zurückzufallen droht, bleibt Cildir zuversichtlich. Die Türkei ist nicht mehr dasselbe Land wie in den 1990er Jahren, sagt sie. Die Türken sehen den Staat nicht mehr als unfehlbare Obrigkeit, es gibt jetzt viel mehr Menschen, die weiter für Demokratie und Menschenrechte kämpfen.

„Heute weht ein anderer Wind“, so Cildir. Der Friedensprozess habe zwar einen Rückschlag erlitten, sei aber noch nicht irreparabel beschädigt.