Gerste zu Beginn der Getreideernte: Die ungewöhnliche Witterung hat die Ertragsschätzungen erschwert. Foto: dpa

In Teilen Europas fällt die Ernte katastrophal aus. Schuld war ein äußerst seltenes Wetterphänomen. Die Verwirrung bei Ertragsprognosen erschwert die Not der Bauern.

Stuttgart - Als Joachim Rukwied, Landwirt und Präsident des Deutschen Bauernverbands, vor einigen Wochen die Felder seines großen Hofs nahe Heilbronn abschritt, überkamen ihn Zweifel. Sein junger Betriebsleiter hatte ihn zu Rate gezogen, weil ihm der Weizen irgendwie spanisch vorkam. Die Halme sahen zwar prächtig aus und waren hoch gewachsen, aber dennoch stimmte etwas nicht. Er habe sich die Ähren angeschaut, sagt Rukwied, und sich an ein Wort erinnert, das sein Großvater einmal benutzt hatte, als er mit ihm vor Jahrzehnten eben diese Felder inspizierte. „Blender“, sagt er. „Alles Blender“.

Das alte Wort beschreibt ziemlich gut das Hauptproblem des aktuellen Getreidejahres, das in manchen Teilen Europas als katastrophal gelten kann. Die Pflanzen sehen gut aus, bringen aber keinen Ertrag. In Frankreich, dem mit 72 Millionen Tonnen (2015) bei weitem wichtigsten Getreideproduzenten Zentraleuropas, rechnet das Landwirtschaftsministerium mittlerweile mit Ernterückgängen von durchschnittlich 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit zeichnet sich die schlechteste Saison seit 30 Jahren ab.

Im Baltikum, dessen Ackerfrüchte stark in Deutschland vermarktet werden, hapert es an der Kornqualität, und auch in Deutschland stehen die Bauern vor herben Ernteausfällen von rund elf Prozent. Vor allem der Süden und Westen der Republik ist betroffen.

Weil Sonne fehlte, wurden Ähren und Körner schlecht ausgebildet

Dabei sah es bis weit in den Juni so aus, als ob die Bauern mit vollen Anhängern in die Scheunen einfahren könnten. Die Aussaat war gut gelaufen. Etwas Wärme und viel Niederschlag ließen die Saat keimen. Die Pflanzen wuchsen prächtig. Noch am 29. Juli prognostizierte beispielsweise das Statistikamt des Landes Baden-Württemberg (Stala) für Getreide Hektarerträge weit über dem langjährigen Mittel und sogar über den guten Vorjahreswerten. Den Experten entging, dass es bereits damals Anzeichen gab, dass die Pflanzen auf breiter Front nicht halten würden, was sie versprachen.

Aus Frankreich, das vegetationsmäßig vor Deutschland liegt, sickerten alarmierende Nachrichten über den Rhein. Weil Sonne fehlte, wurden Ähren und Körner schlecht ausgebildet. Die Energie der Pflanzen verpuffte im Blattwerk. Sie schossen ins Kraut.

Peu à peu korrigierten immer mehr Marktbeobachter in den folgenden Wochen ihre Prognosen nach unten. Am 18. August passten auch die Experten vom Stala in Baden-Württemberg ihre so genannte Vorernteschätzung ungewöhnlich stark nach unten an. Statt durchschnittlich knapp 7,1 Tonnen Getreide pro Hektar sollten sich nun nur noch gut 6,3 Tonnen in die Erntemaschinen ergießen. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass man bei der Schätzung so „daneben liegt“, habe man „in diesem Maße noch nicht erlebt“, gibt das Statistikamt unumwunden selbst zu. Den eigenen Experten einen Vorwurf machen will man gleichwohl nicht. Sie führen die jährlichen Ernteschätzungen nach einem eingespielten Mix aus Feldbeobachtung und mathematischer Methodik durch. Dem tatsächlichen Ergebnis komme man so „meist sehr nahe“, heißt es. Den aktuellen Ausrutscher führt man auf die unvorhersehbare Witterung zurück, die Marktbeobachter allenfalls mit den von extremer Nässe gekennzeichneten Chaos-Jahren 1998 und 2002 vergleichen.

Fachleute bezeichnen die aktuelle Lage als ungewöhnlich

Tatsächlich sind die Stuttgarter Statistiker nicht die einzigen, denen das Blender-Getreide dieses Jahr einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Mancherorts habe die ungewöhnliche Witterung die „regionalen Ertragsschätzungen erschwert", sagt Thomas Berger, Sprecher der Münchner Baywa, einem der führenden Agrarhändler Deutschlands. Viele Marktteilnehmer seien in ihrer Einschätzung der Erntesituation speziell „im Mai und Juni“ getäuscht worden, sagt auch ein Sprecher der Agravis Raiffeisen AG, ebenfalls eine Branchengröße mit Sitz in Hannover. Das Rohstoff- und Lebensmittelgeschäft stehe nun „vor Herausforderungen“.

Anders als andere Wirtschaftsbereiche lebt der Agrarbereich vom Blick in die Glaskugel. Ertrags-, aber auch Wetterprognosen sind das A und O bei der Vermarkung der Nahrungsmittel. Auf Grundlage der Schätzungen kaufen oder verkaufen Bauern und Händler nämlich ihre Produkte mitunter schon Monate vor der Ernte, um sie später an weitere Handelspartner oder Börsen weiterzureichen. Nicht immer dienen diese Termingeschäfte spekulativen Zwecken. Vielmehr sollen sie helfen, Preisausschläge zu glätten und den Landwirten, Mühlen und Zwischenhändlern mehr Planungssicherheit zu geben. Gut funktioniert das aber nur, wenn die Prognosen stimmen. Gehen Sie fehl, spielen die auf Erwartungen fußenden Terminmärkte verrückt.

Zwar ist die Branche Unsicherheiten gewohnt, Fachleute bezeichnen die aktuelle Lage aber dennoch als außergewöhnlich. So stünden Landwirte nun vor dem Problem, vor Wochen Lieferverpflichtungen eingegangen zu sein, die sie jetzt nicht mehr erfüllen könnten, heißt es von Agravis. Um an Qualitätsgetreide zu kommen, müssten Mühlen in Süddeutschland ihre Bezugsquellen wechseln.

Handelsbarrieren beiu Agrarrohstoffen

Weil mit Frankreich ein Schwergewicht des EU-Agrarmarkts getroffen ist, ergeben sich sogar kontinentale Beeinträchtigungen. „Wir haben eine Herausforderung, was die Getreideversorgung in der EU angeht“, sagt der Agravis-Sprecher. Ablesen lässt sich das an den aktuellen Börsenpreisen für Getreide. An der für Europa wichtigsten Agrar-Börse, der Matif in Paris, habe sich Weizen im Vergleich zur Chicagoer Börse – dort bilden sich die Weltmarktpreise – „seit Mitte Juni verteuert“, sagt Baywa-Sprecher Berger. Nach Einschätzung von Experten hängt das mit der aktuellen Versorgungssituation in Europa zusammen.

Zwar gelten die Märkte für Agrarrohstoffe wie Weizen weltweit als liberalisiert, allerdings existieren durchaus noch Handelsbarrieren, die einzelne Regionen abschotten und dazu führen, dass Missernten nicht durch Getreide-Überschüsse in anderen Regionen kompensiert werden können. Nach Agravis-Angaben erlaubt die EU beispielsweise jährlich nur die Einfuhr von 4,5 bis fünf Millionen Tonnen Weizen zu reduzierten Zollsätzen. Angesichts von möglichen Ernteausfällen von rund zehn Millionen Tonnen allein beim französischen Weizen ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. „Schlechte Ernten in Europa durch den Weltmarkt auszugleichen, ist daher schwer, heißt es von Agravis.

Um die Situation wieder zu beruhigen, hofft man in der Branche daher auf einen zügigen Abbau von Getreide-Lagern aus dem vergangenen Jahr – und auf Erntejahre, die wieder dem gewohnten Lauf folgen.