Oft die einzige Handhabe gegen organisierte Kriminalität: Die Zeugenaussage eines Aussteigers Foto: dpa

Wer mit seiner Aussage hilft, Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen, kann sich unter den Schutz einer neuen Identität begeben – doch das ist ist leichter gesagt als getan.

Stuttgart - Zeugenschutz, das klingt nach Hollywood. Wenn Robert de Niro in „Malavita“ den abtrünnigen Mafioso mimt, dem die Polizei eine neue Identität verpasst, dann ist da schon viel Fantasie im Spiel. Die Vorstellung, sein Leben auf Null zu stellen und quasi von vorn anzufangen, hat für Roman- und Drehbuchautoren seit jeher etwas Prickelndes.

Und doch ist die amerikanische Fiktion von der deutschen Realität gar nicht so weit entfernt. Die Polizei in Bund und Länder betreut zurzeit Hunderte Menschen, die eine neue Identität besitzen, weil sie ausgepackt und so zur Verurteilung von Verbrechern beigetragen haben. Vier bis sieben Fälle sind es jährlich allein im Südwesten, doch genaue Zahlen werden nicht publik – wie sich Zeugenschützer überhaupt lieber auf die Zunge beißen, als Details zu verraten. Ein paar Dinge lassen sie sich aber schon entlocken.

Nicht nur Verbrecher

Stuttgart, Taubenheimstraße 85. Das Landeskriminalamt (LKA) hat mit Hollywood so viel gemein wie ein Polizeioberrat mit James Bond. Doch die Spezialisten in dem grauen Zweckbau haben ziemlich unorthodoxe Methoden auf Lager, wenn es darum geht, organisierte Kriminalität zu bekämpfen: Indem sie zum Beispiel Zeugen mit der Zusicherung auf Strafmilderung und Schutz zu brisanten Aussagen bewegen. „Der Zeugenschutz ist die Ultima Ratio im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität“, sagt Robert Ullrich, der als Abteilungsleiter im LKA diese Arbeit verantwortet.

Wie also läuft das ab, wenn ein Mitglied der Mafia oder einer Rocker-Gang das Schweigegelübde bricht? Es seien gar nicht immer Verbrecher, hakt Ullrich ein, auch wenn 80 bis 90 Prozent der bisher geschützten Zeugen eine kriminelle Vorgeschichte mitbrächten. Die anderen seien keine Straftäter im klassischen Sinn, sondern zum Beispiel geschleuste Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden und allenfalls gegen das Ausländerrecht verstießen. Trotzdem sind sie oft in Gefahr. Selbst ein eigentlich unbeteiligter Mensch könne zum gefährdeten Zeugen werden, wenn er (aus Sicht der Justiz) zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war, sagt Ullrich: „Aber das kommt recht selten vor.“

Abschied vom alten Leben

Natürlich kann man gefährdete Zeugen Tag und Nacht bewachen. Auch Ratschläge hat die Polizei parat – zum Beispiel, sich eine auffällige Tätowierung entfernen zu lassen. Doch wenn sie wirklich brisante Erkenntnisse preisgeben, haben Zeugen Angst um ihr Leben. Deshalb führt an einem Identitätswechsel meist nichts vorbei: „Das ist durchaus die Regel, wenn man erkennt, dass die bisherigen Schutzmaßnahmen nicht mehr ausreichen“, sagt Ullrich. Das aber bedeutet Abschied nehmen vom alten Wohnort, von Freunden, oft auch vom Beruf, mitunter sogar vom Partner. Bisweilen werden ganze Familien verpflanzt, was Ullrich „sehr komplex“ nennt, denn wie macht man etwa einem Kind klar, dass es von nun an anders heißt? „Manchmal geht das Programm 20 Jahre, da sieht man die Kinder groß werden – und die werden dann wiederum Eltern.“

Zeugenschützer müssen aber auch Psychologen sein und die Aussteiger betreuen. Denn das alte Leben lässt sich nicht einfach abstreifen wie eine alte Haut. Vor allem moderne Kommunikationsmittel und das Internet sind heikel. Wer sich in sozialen Netzwerken tummelt, hat schon verloren. Selbst der Besitz eines Smartphones, das ja vielerlei Rückschlüsse zulässt, erschwert die Geheimhaltung. Reich werden kann man als Zeuge ohnehin nicht, auch wenn der Staat ein Startgeld für den beruflichen Neuanfang zahlen kann. Nur den wenigsten gelingt es, so Karriere zu machen wie der früheren RAF-Terrorist Volker Speitel. Der hatte nach seiner Verhaftung im Oktober 1977 ausgepackt und zum Beispiel enthüllt, wie die Waffen in die JVA Stuttgart-Stammheim geschmuggelt wurden, mit denen sich Top-Terroristen wie Andreas Baader erschossen hatten. Mit Hilfe des Zeugenschutzprogramms des BKA tauchte er ab und brachte es bis zum Werbechef der Firma Westfalia – woraufhin seine Tarnidentität aufflog.

Wer nicht spurt, fliegt raus

Viele Zeugen sind jedenfalls dem Druck, alles hinter sich zu lassen, nicht gewachsen und steigen entweder von selbst aus oder werden hinaus geworfen, weil sie Verabredungen brechen. Ullrich: „Das passiert häufiger als man denkt. Wir setzen sie schon unter Druck, wenn sie die Spielregeln nicht einhalten, denn am Ende können auch die Zeugenschützer in Gefahr geraten.“ Ein weiteres Problem: Mit einem kurzfristigen Abtauchen ist es nicht getan. Niemand kann ja garantieren, dass einem Italiener, der gegen das Schweigegebot der Omerta verstoßen hat, nach zehn Jahren nichts mehr zustößt. Die Betreuung muss also weiter gehen – oft über die Pensionsgrenze einzelner Betreuer hinweg.

Die gesetzliche Grundlage für den Zeugenschutz existiert seit 2001. Damals harmonisierten Bund und Länder ihre Rahmenbedingungen. Doch die elf Paragrafen sind dünn, vieles ergibt sich aus internen Dienstanweisungen oder liegt im Ermessen der Zeugenschützer. Der Jurist Christian Siegismund spricht deshalb in seiner Dissertation (2009) von einer unbefriedigenden Rechtslage. Beamte machten häufig zu vollmundige Versprechungen, die dann nicht eingehalten würden, ein gefährdeter Zeuge sei oft „schutzlos dem Ermessen und gegebenenfalls auch der Willkür der Behörden ausgeliefert“. Ohne schriftliche Verpflichtungserklärung, so Siegismunds Rat, solle sich jedenfalls niemand in die Hände eines solchen Programms begeben. Doch der Jurist konstatiert auch, dass Zeugenaussagen von Insidern, die Zugang zum jeweiligen kriminellen Milieu haben, „eines der effektivsten Mittel beim Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität“ sind. Die Polizei kommt also daran nicht vorbei.