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Sie umarmen, sie lenken ab, sie tanzen an, sie greifen zu: Stuttgart-Besucher müssen noch stärker auf ihre Wertsachen achten – denn die Taschendiebe sind so dreist wie noch nie.

Stuttgart - Manchmal ist es gut, dass Polizisten auch mal privat frühmorgens um vier in der Stadt unterwegs sind. Damit hat jedenfalls ein 26-Jähriger nicht gerechnet, als er am vergangenen Wochenende in der S-Bahn-Station Hauptbahnhof ein Opfer findet. Als er einem schlafenden jugendlichen Nachtschwärmer das Mobiltelefon aus der Tasche zieht, werden die Privatleute plötzlich dienstlich. Der Mann aus Nordafrika wird festgenommen, ein Richter schickt ihn in Untersuchungshaft.

Taschendiebstähle sind in der Stadt zum Massendelikt geworden. 2370 Fälle – so viele hat es noch nie gegeben. Selbst 1992, als die Stuttgarter Kriminalität mit insgesamt 71 500 Delikten einen traurigen Allzeit-Rekordwert erreichte, hatten die Langfinger nur etwas über 2000-mal zugeschlagen. „Wir werden jetzt zum Frühlingsfest sehr aktiv sein müssen“, sagt Stuttgarts Vize-Polizeipräsident Norbert Walz am Dienstag bei der Vorstellung der Kriminalitätsstatistik der Landeshauptstadt.

4000 Einsatzstunden, 49 Tatverdächtige

Das Problem heißt Nordafrika: Die Männer aus dem Maghreb-Staaten machen fast die Hälfte unter den Tatverdächtigen aus. Sie sind meistens in der Vergnügungsszene der Stadt aktiv. „Eine Auswertung der Tatzeiten zeigt, dass die meisten Diebstähle zwischen 15 und 19 Uhr und dann in den Nachtstunden zwischen Mitternacht und 4 Uhr begangen werden“, sagt Walz.

Im Jahr 2015 habe man deshalb die Ermittlungsgruppe Tasche eingerichtet – Spezialisten, die sich zentral um die Langfinger kümmern. Die Bilanz: Bis Jahresende waren die Beamten verdeckt, aber auch in Uniform unterwegs, sammelten 4000 Einsatzstunden – und brachten letztlich 49 Tatverdächtige hinter Gitter. Freilich sind die Aufklärungsquoten traditionell bescheiden: Nur acht von hundert Fällen konnten überhaupt geklärt werden.

Das Phänomen zeigt, dass die Vorfälle an Silvester kein Zufall waren. Mit über 19 000 Straftaten verzeichnet die Innenstadt als Brennpunkt neue traurige Höchstwerte. Die Polizei reagierte 2016 mit der sogenannten Sicherheitskonzeption Stuttgart - eine Schwerpunktaktion mit inzwischen 20 000 Arbeitsstunden. „Das ist aber ein Kraftakt, den wir so nicht durchhalten können“, sagt Polizeipräsident Franz Lutz.

Es geht um Smartphones

Warum aber haben Taschendiebe Hochkonjunktur? „Heutzutage geht es nicht mehr nur um Geldbörsen“, sagt Kai Strobelt, „sondern um hochwertige Smartphones, die inzwischen fast jeder hat.“ Strobelt muss es wissen: Er war 2015 der Chef der Ermittlungsgruppe Tasche, die zum Jahresbeginn aufgelöst wurde. Jetzt sitzen Strobelt und die Langfinger-Experten in der Revierstation Süd in der Böheimstraße, als Teil der Dienststelle Zentrale Ermittlungen. Und sie müssen am Ball bleiben: „Wir sind auch weiterhin mindestens zehn bis 15 Tage im Monat auf der Straße“, so Strobelt.

Ein weiteren Grund für die gestiegenen Zahlen sieht der Taschendieb-Fahnder in „verbesserten Tatgelegenheiten“. Konkret: Die S-Bahnen fahren die ganze Nacht, beschert Stuttgart noch mehr Publikum.

Immerhin scheint sich eines zu ändern: Wurden Taschendiebe früher meist wieder auf freien Fuß gesetzt, beantragt der Staatsanwalt mehr Haftbefehle. „Leider wird das anderswo oft nicht so konsequent gehandhabt“, sagt der Taschendieb-Fahnder. Ein 54-jähriger Langfinger aus Polen etwa, der im Hauptbahnhof auf frischer Tat ertappt wurde, war erst tags zuvor in Nürnberg erwischt und auf freien Fuß gesetzt worden.

Einen wichtigen Ratschlag hat Fahnder Strobelt für Stadtbummler und Nachtschwärmer: „Schalten Sie die Ortungsfunktion ein“, sagt er. Und wer die Seriennummer des Handys und die SIM-Karten-Nummer notiert, hat hinterher wenigstens weniger Ärger.