Eine Passion in bewegten Tafelbildern: Lea van Acken als Maria und Florian Steter als Priester in „Kreuzweg“. Foto: Camino

Ein grandioses filmisches Experiment: Die Leidensgeschichte einer 14-Jährigen in einer fundamentalistischen Familie. Lea van Acken als Maria ist eine große Entdeckung. Noch ein Kind, sich ihrer Weiblichkeit aber schon bewusst, trägt sie den Film.

Filmkritik und Trailer zum Kinofilm "Kreuzweg"

Natürlich heißt sie Maria – doch nicht ihr Kind wird geopfert werden, sondern sie selbst. Die 14-Jährige wächst in einer Familie fundamentalistischer Katholiken auf, sie leidet an den strengen Regeln und zerbricht schließlich an deren Lebensfeindlichkeit.

Maria erlebt ein Martyrium, das Regisseur Dietrich Brüggemann analog zur Passion Christi in 14 bewegten Tafelbildern erzählt. Die Kamera bleibt in jeder Einstellung nahezu statisch an derselben Stelle, das Ensemble spielt die langen Sequenzen bravourös durch, die im Film ungeschnitten zu sehen sind. Schon die erste, in der ein Priester die Firmlinge indoktriniert, macht frösteln: „Soldaten Jesu Christi“ seien sie, „aber wo ist die Schlacht? In unserem Herzen!“ Von Versuchungen des Alltags predigt er dann, von „Werbeplakaten“, „verführerischen Rhythmen im Radio, satanischer Musik, schädlichen Filmen“ – jedes Mal „eine kleine Schlacht zwischen Gott und seinem Widersacher, dem Satan“.

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Der Ton ist damit vorgegeben, und Maria scheint zunächst die eifrigste Soldatin Gottes sein zu wollen. Doch das ihr aufoktroyierte Weltbild hat längst Risse: Im Sportunterricht wird sie gehänselt, weil sie nicht zu „schädlichen Rhythmen“ hüpfen möchte. In der Schulbibliothek sieht man sie von vorne, ein Mitschüler namens Christian (!) spricht sie an, höflich, mit ehrlichem Interesse. Sie ist abweisend, er bringt sie zum Lachen, lädt sie in seinen Kirchenchor ein – doch ihre Mutter untersagt ihr den Kontakt selbst mit so einem netten Jungen.

„Geschlechtliche Vereinigung vor der Ehe ist für Gott dasselbe wie ein Ehebruch“, wird bei der Beichte der Priester sagen. Und die tyrannische Mutter erklärt: „Glaub mir, ich mach’ das nicht gerne“, genau wie der Pfarrer (Burghart Klausner) in Michael Hanekes „Das weiße Band“, ehe er die Kinder züchtigt – doch ihr Missbrauch erfolgt nicht körperlich, sondern rein psychisch.

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Das Drehbuch ist auf den Punkt geschrieben, es entlarvt selbst ernannte Glaubenswächter als Fanatiker, vermeintliche Hüter der Wahrheit als die eigentlichen Lügner, die sich und ihre Nächsten am Leben betrügen. Im Blick auf das Einzelschicksal entfaltet diese Geschichte eine ähnliche Kraft wie im Blick aufs große Ganze Umberto Ecos Roman „Name der Rose“. Brüggemann hat das Buch wie bei seinen vorigen Filmen mit seiner Schwester Anna verfasst, zu Recht haben sie dafür bei der diesjährigen Berlinale einen Silbernen Bären bekommen.

Und er hat es konsequent in Bilder umgesetzt: Maria wird ihr Glaube förmlich die Luft abschnüren, die Absurdität der Verblendung in all ihrer Härte zutage treten.

Lea van Acken als Maria ist eine große Entdeckung. Noch ein Kind, sich ihrer Weiblichkeit aber schon bewusst, trägt sie den Film. In ihren Augen, ihrer Mimik, ihren linkischen Gesten spiegelt sich alles: die Sehnsucht nach Leben und das Leiden daran, dass sie keines haben darf. Auch die autoaggressive Selbstgeißelung glaubt man ihr, wenn sie im kalten Wind die Jacke auszieht oder die Nahrung verweigert.

Das Vorbild sei die Pius-Bruderschaft, hat Brüggemann in Berlin gesagt: „Das ist ja keine Sekte, die machen, was der Katholizismus schon immer macht, sie lehnen nur einige liberalisierende Reformen des 20. Jahrhunderts ab.“ Sein beeindruckendes filmisches Experiment zeigt in strahlender Klarheit, wie leicht in übersteigerten religiösen Ideologien aus der vermeintlichen Schlacht für Gott eine Schlacht gegen die Menschen werden kann; und dass der Katholizismus dafür nur ein Beispiel ist.

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