Ein Funkenfang verhindert, dass die Funken meterweit fliegen. Weitere Bilder in unserer Bildergalerie. Foto: factum/Bach

Sie arbeiten nachts, wenn es niemand sieht: Schienenschleifer im Auftrag der Bahn. Vier Weichen zwischen Schwieberdingen und Markgröningen müssen geschliffen werden, ehe am Morgen wieder die Züge darüber rollen können.

Kreis Ludwigsburg - Frank Schubert lässt sich in seinen Sitz fallen und reißt sich die Stirnlampe vom Kopf. „Wir schaffen das Leistungspensum nicht“, sagt er, während er auf seinem Bildschirm gebogene rote und blaue Linien betrachtet. Seit 21.15 Uhr agiert ihr Schienenschleifzug an der Überleitstelle Glems. Im Auftrag der Bahn schleift Schubert mit acht anderen Männern vier Weichen zwischen Schwieberdingen und Markgröningen. Sein Kollege Alexander Walden sitzt vor ihm und blickt durch die Scheibe der Lok auf die Gleise, wo zwei weitere Mitarbeiter gerade frisch geschliffene Schienen vermessen. Blitzschnell tippt er neue Befehle auf den Touchscreen vor sich und drückt dann länger auf einen Button mit einem Hasen darauf. Das bedeutet: Gas geben. „Die Software ist von Amerikanern, die hatten Humor beim Programmieren“, sagt er.

Walden, Schubert und Co. machen Arbeiten, die im besten Fall niemand mitbekommt. Nur gelegentlich steht in der Zeitung, dass die Bahn nachts Schienenschleifarbeiten erledigt und Beobachter gebeten werden, Abstand zu halten, weil Funken fliegen. Aber wer sieht sich schon mitten in der Nacht Schienenschleifarbeiten an? Wenn die Schienenschleifer im Zusammenspiel mit der Leitstelle, die die durchfahrenden Züge aufs andere Gleis koordiniert, ihren Job richtig machen, gibt es keine oder fast keine Verspätungen im Zugfahrplan. Jetzt aber, kurz nach Mitternacht, sieht das anders aus. „Wahrscheinlich wird später der eine oder andere Güterzug warten müssen“, sagt Schubert. Das sollte nicht passieren, denn dann bezahlt die Bahn weniger für den Auftrag. „Und am Ende wirkt sich das auch auf meinen Lohn aus“, erzählt der gelernte Gleismonteur aus Sachsen. Die Bahn ist in diesem Fall nur der Auftraggeber, die Schleifer und der Schleifzug kommen vom Unternehmen Voestalpine, dem österreichischen Stahlkonzern.

Am Ende schleift der Zug 0,5 Millimeter ab

Bis 5.30 Uhr am Morgen haben sie Zeit. Insgesamt also mehr als acht Stunden für einen Streckenabschnitt von 105 Metern. Einmal im Halbjahr werden die Schienen auf Hochgeschwindigkeitsstrecken wie der zwischen Vaihingen/Enz und Stuttgart präventiv geschliffen, das verlängert die Lebenszeit der Gleise. Für eine Weiche fährt der Zug zwölfmal die betreffende Strecke auf und ab, jedes Mal schleifen Köpfe aus Korund, einem Mineral, fast so hart wie Diamant und jeweils zehn an einer Seite, ein paar Zehntelmillimeter ab. Alexander Walden kann die Neigung und den Druck der Schleifköpfe anpassen. Am Ende ist es der Bruchteil eines Millimeters, der weggeschliffen wird, eine Schicht Stahl, etwa so dick wie zehn Haare. „Wir sind so etwas wie die Friseure der Schiene, wir stylen sie“, sagt Schubert. Ihren Zug haben die Arbeiter „Railstyler“ getauft.

Mit knapp vier Kilometern pro Stunde kriecht die 1680 PS starke Lok über die Schienen. Lange, bevor sie zu sehen ist, surrt das Gleis hohl und metallisch. Das Schleifen selbst quietscht und britzelt, die Funken unter dem Schleifzug fliegen, als würden 1000 Wunderkerzen auf einmal losgehen. Ein Schutzfang verhindert, dass die Funken weiter fliegen. Ins Schleiforchester mischt sich auch ein Ton wie von einem starken Fön – das ist ein Gebläse, das den Schleifstaub einsaugt. Sonderlich laut ist es nicht, keiner der Arbeiter trägt einen Hörschutz. Danach liegt der leicht beißende Geruch von Flex-Arbeiten in der Luft, die Schienenoberfläche, jetzt handwarm, glänzt silbern-hell. Feine Riffelungen zeichnen sich auf ihr ab. Wenn eine Weiche fertig geschliffen ist, fährt noch ein Waschwagen darüber: Ein Mitarbeiter steht mit dem Dampfstrahler vorne und bläst mit dem Wasserstrahl den restlichen Staub weg. Weil der Zug dabei vorwärts fährt, fliegen die aufgestobenen Wassertröpfchen millionenfach wieder auf ihn zurück.

In Bahndeutsch heißt es „Rollkontaktermüdung“

Schubert ist inzwischen ausgestiegen und wechselt ein paar Worte mit Uwe Lumpe. „Ich hab den DQM mitgenommen“, sagt er. KS und SS habe er auch gemessen, 38 Komma vier-fünf kam raus. Es sind allerlei technische Begriffe im Bahnsprech, die der Maschinenführer Schubert an Lumpe weitergibt. Der Grund, warum sie hier sind, nämlich die Abnutzung der Schienen durch viele darüber rollende Züge, heißt im Bahndeutsch „Rollkontaktermüdung“.

Lumpe, 58 Jahre, aus Sachsen, ist freischaffender Ingenieur und wird von der Bahn für Schienenarbeiten gebucht. Heute ist er der QÜS, das steht für Qualitätsüberwacher Schienentechnik. „Oder anders: ich bin diplomierter Schotterknecht“, sagt er und lacht. Er ist dafür verantwortlich, dass am Ende alles passt, dass durch das Schleifen keine Fehler entstehen, beispielsweise Haarrisse, Rauheiten oder Verriffelungen. Im QÜS-Jargon heißen solche Fehler dann etwa Head Checks oder Bill Cosby. „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn die Schiene blaue Flecken bekommt“, sagt Uwe Lumpe. Dann waren Druck und Temperatur beim Schleifen zu hoch und der Stahl wird porös. Auf dem benachbarten Gleis rauscht ein IC mit 160 Stundenkilometern vorbei, Lumpe und die anderen Arbeiter zucken nicht einmal zusammen. „Da gewöhnt man sich dran“, kommentiert Lumpe lapidar.

Ein Leben aus dem Koffer

Und an die Arbeit selbst? Schienenschleifen geht nur nachts, wenn kaum Züge fahren. „Der Mensch ist nicht dazu gemacht, nachts auf zu sein“, sagt Lumpe. „Aber ich wusste, worauf ich mich einlasse“, sagt er und zieht an seiner Kippe. Außerdem gewöhne man sich daran. Im Winter, wenn es kälter ist, stehe man eben lieber etwas näher an den Funken, scherzt er. Frank Schubert findet, man verdiene durch die Nachtarbeit nicht schlecht in dem Job. Dafür ist es ein Leben aus dem Koffer, heute hier, morgen dort. „Gestern waren wir noch in Hannover, vorgestern in Essen“, sagt der 51-Jährige. „Wenn es ganz schlecht läuft, bist du alle zwei Tage in einer anderen Koje“, pflichtet ihm sein Kollege Alexander Walden bei. Aber das Nomadenleben habe auch seine guten Seiten, findet Schubert. Er war beruflich auch schon in China und in den Niederlanden. „Ich hab’ mal mit der Beatrix zu Mittag gegessen“, erzählt er. Als der Amsterdamer Hauptbahnhof erneuert wurde, gab es ein großes Bankett – und die damalige Königin hat auch die Schienenarbeiter eingeladen.

Am Ende schaffen die Schienenschleifer ihr Pensum doch noch. Pünktlich um 5.30 Uhr können sie der Leitstelle melden: Arbeiten erledigt. Als die Anspannung von den Arbeitern abfällt, ist auch Uwe Lumpe zufrieden: „Das war heute ein bisschen wie bei DMAX.“ Der TV-Männersender ist bekannt für „Held-der-Arbeit“-Reportagen.