Gerät immer mehr unter Druck: Türkischer Ministerpräsident Erdogan. Foto: dpa

Der türkische Ministerpräsident Erdogan ist bereits angeschlagen, nun bringen ihn angebliche Telefon-Mitschnitte in neue Bedrängnis. Erdogan reagiert auf den Druck mit einem zunehmend autoritären Kurs – während er der EU gleichzeitig Reformen zusichert.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan ist bereits angeschlagen, nun bringen ihn angebliche Telefon-Mitschnitte in neue Bedrängnis. Erdogan reagiert auf den Druck mit einem zunehmend autoritären Kurs – während er der EU gleichzeitig Reformen zusichert.

Ankara - Die Stimme am Telefon klingt müde und fast resigniert. „Mein Sohn, bis du zu Hause?“, fragt Recep Tayyip Erdogan. Am anderen Ende der Leitung ist Erdogans Sohn Bilal. Es ist der 17. Dezember des vergangenen Jahres. Der türkische Ministerpräsident erzählt seinem Sohn von Korruptionsermittlungen Istanbuler Staatsanwälte, mehrere Ministersöhne seien festgenommen worden. „Schaff’ alles aus dem Haus“, sagt Erdogan. „Was soll ich schon hier haben, dein Geld ist im Safe“, antwortet Bilal. „Genau das meine ich doch“, sagt Erdogan.

Der jetzt bekannt gewordene Dialog zwischen Erdogan und seinem Sohn ist die jüngste Enthüllung in einer ganzen Reihe, die seit Dezember die Türkei erschüttern. Doch zum ersten Mal seit dem Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gerät Erdogan jetzt persönlich ins Zwielicht. Die Telefonmitschnitte – wer Erdogan abgehört haben soll und warum, ist unbekannt – belegen nach Ansicht der Opposition, dass Erdogan und sein Sohn Bilal große Geldsummen vor der Staatsanwaltschaft versteckt hielten.

Erdogan dementiert und spricht wieder einmal von einem Angriff auf den Staat und von Manipulation. In einer kämpferischen Rede am Dienstag nennt er die angeblichen Mitschnitte „schmutzige Montagen“ mit dem einzigen Ziel, die Regierung zu diskreditieren. Dennoch fordern politische Gegner des Premiers seinen Rücktritt und juristische Schritte gegen den 59-jährigen. Doch es sieht nicht so aus, als werde sich Erdogan dem Druck beugen. Die neuen Vorwürfe sind jedoch eine weitere Wegmarke der rasanten Veränderung, die das Land seit Monaten durchmacht.

Säkulare Kräfte weitgehend entmachtet

In ihren ersten Jahren nach ihrem Regierungsantritt Ende 2002 kämpften Erdogan und seine islamisch-konservative Partei AKP gegen die Macht der Säkularisten, deren Eliten viele Jahrzehnte die Türkei beherrscht hatten. Der Premier setzte sich trotz Putschdrohungen des Militärs und Störversuchen der säkular gefärbten Justiz durch. Spätestens seit seinem Wahlsieg von 2011, als er fast 50 Prozent der Stimmen eroberte, regiert Erdogan unangefochten. Mit einschneidenden Folgen.

Inzwischen sind die Säkularisten weitgehend entmachtet, und neue Eliten haben das Ruder übernommen, während sich Teile der türkischen Öffentlichkeit von Erdogan ignoriert fühlen: Die landesweiten Proteste des vergangenen Jahren waren – abgesehen vom Ärger über ein umstrittenes Bauprojekt auf einem Park-Gelände am Istanbuler Taksim-Platz – auch ein Aufstand gegen die zunehmende Selbstherrlichkeit Erdogans und seiner Gefolgschaft.

Im islamischen Lager nehmen die Spannungen ebenfalls zu. Zwischen Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dem im US-Exil lebenden langjährigen Mitstreiter des Ministerpräsidenten, und den AKP-Eliten gibt es Streit um die Besetzung von Posten in der Verwaltung und dem Staatsapparat, die früher von den Säkularisten beansprucht wurden.

Erdogan reagiert mit harter Hand

Erdogans reagiert auf die Unruhen im Istanbuler Gezi-Park wie auf den Krach mit Gülen, dessen Bewegung Hizmet vor allem im Bildungs- und Medienbereich aktiv ist, mit harter Hand. Hinter beiden Phänomenen vermutet er Versuche seiner Gegner, ihn von der Macht zu verdrängen: Erdogan hat den Eindruck, es gehe um sein politisches Überleben. Entsprechend rücksichtslos fällt seine Antwort aus. Kritiker befürchten, dass er dabei die mühsam errungenen demokratischen Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts damit wieder zunichte macht.

Anzeichen dafür gibt es genug. Als Gülen-treue Staatsanwälte im Dezember die Korruptionsvorwürfe auf die Tagesordnung brachten, riefen die Opposition und die EU zu transparenten Ermittlungen auf. Statt dessen ließ Erdogan mehrere tausend Polizisten, Richter und Staatsanwälte als mutmaßliche Gülen-Getreue feuern.

In schneller Folge brachte die AKP mehrere Gesetzesvorhaben auf den Weg, die bei Opposition und EU die Alarmglocken schrillen lassen. Ein neues Internetgesetz gibt der Regierung die Möglichkeit, unliebsame Websites binnen vier Stunden ohne richterliche Anordnung zu sperren. Eine Justizreform spricht der Regierung großen Einfluss bei der Auswahl von Richtern und Staatsanwälten zu. Ein neues Geheimdienstgesetz erweitert die Befugnisse des Nachrichtendienstes MIT so sehr, dass für die Agenten weder Bankgeheimnis noch andere Hürden gelten. Eine Zeitung verglich die Zustände mit George Orwells düsterer Zukunftsvision vom Überwachungsstaat in „1984“. Statt der von Erdogan immer wieder versprochenen „fortschrittlichen Demokratie“ bewege sich der Premier in Richtung eines autoritären Staats.

Oppositionschef: Bald weitere Beweise

Jede der kürzlichen Reformen nährt neue Befürchtungen. Sie alle geben der Regierung mehr Macht, ohne demokratische Kontrollinstanzen zu stärken. Erdogan rechtfertigt dies mit der Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung, die nach seiner Meinung einen Staat im Staate bildet und deshalb bekämpft werden muss. Gülen wolle ihn vor den Kommunalwahlen in gut vier Wochen politisch schwächen. Nach der Veröffentlichung der neuen Telefonate von Erdogan mit seinem Sohn Bilal rechnen Beobachter mit noch härteren Maßnahmen und einer „Operation“ gegen die Gülen-Anhänger.

Oppositionschef Kemal Kilicdarogluvon der kemalistischen CHP sagte am Dienstag, es würden bald weitere Beweise gegen die Regierung auftauchen. Und an Erdogan gewandt: „Steig’ in einen Hubschrauber und hau ab ins Ausland. Oder tritt zurück.“

Die fünf Telefonate von insgesamt etwa elf Minuten Länge (http://www.youtube.com/watch?v=Kcq4FgkmGW0) wurden angeblich am 17. und 18. Dezember des vergangenen Jahres aufgezeichnet. Am Morgen des 17. Dezember hatten Istanbuler Staatsanwälte im Rahmen von Korruptionsermittlungen mehrere Dutzend Verdächtige festnehmen lassen, darunter die Söhne von drei Ministern aus Erdogans Kabinett. In den Telefonmitschnitten trägt Erdogan seinem Sohn von Ankara aus auf, Geld aus seinem Haus in Istanbul verschwinden zu lassen. Um wie viel Geld es sich handelt und woher es stammt, ist nicht klar; an einer Stelle ist von 30 Millionen Euro und 20 Millionen Dollar in bar die Rede, die bis zum Abend des 17. Dezember noch nicht aus dem Haus geschafft werden konnten. Insgesamt sei es um eine Milliarde Dollar gegangen, hieß es in einigen Berichten im Internet. Laut den Mitschnitten verteilte Bilal das Geld bei befreundeten Geschäftsleuten.

Die Kurse geben nach, die Lira fällt

Erdogan sagt, es handle sich um einen politischen Erpressungsversuch. Regierungstreue Zeitungen hatten erst am Montag gemeldet, Istanbuler Staatsanwälte hätten Erdogan und rund 7000 andere Personen illegal abgehört. Angeblich im Auftrag Gülens.

Trotz des Dementis aus Ankara bleibt Kilicdaroglu bei seiner Ansicht, die Mitschnitte seien echt. Die zweitgrößte Oppositionspartei, die nationalistische MHP, rief die Justiz auf, Ermittlungen gegen Erdogan aufzunehmen. Gegner Erdogans verweisen zudem darauf, der Ministerpräsident habe zwar von „Montage“ gesprochen, gleichzeitig aber beklagt, dass selbst angeblich abhörsichere Telefone angezapft würden.

An der Istanbuler Börse fielen am Dienstag die Kurse, auch die Lira rutschte wieder ab. Mindestens bis zu den Kommunalwahlen am 30. März sind weitere Turbulenzen zu erwarten. Bei der März-Wahl geht es für Erdogan nicht nur um ein möglichst gutes Abschneiden der AKP, sondern auch um die Frage, ob er persönlich politisch stark genug bleibt, um bei der Präsidentenwahl im August für das höchste Staatsamt zu kandidieren. Erdogan habe keine Chance mehr auf das Präsidentenamt, sagt Nationalistenchef Devlet Bahceli.

Auch unabhängige Beobachter sind skeptisch. Selbst bei einem relativ guten Ergebnis für die AKP im März werde es für Erdogan schwer, schreibt der Journalist Murat Yetkin in der Zeitung „Radikal“: Erdogans harte Linie während der Gezi-Proteste, sein Dauerstreit mit der Gülen-Bewegung und die Korruptionsvorwürfe hinterlassen nach Yetkins Meinung ihre Spuren.

Idris Bal, ein früherer Parteifreund des Ministerpräsidenten, prophezeit: Was Erdogans Präsidentschaftsambitionen angehe, sind dessen Chancen mittlerweile bei „null“.