Gespanntes Verhältnis: US-Vizepräsident Joe Biden (re.) beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Foto: DPA

Seit Jahren driften die einst proeuropäische Erdogan-Regierung und der Westen auseinander. Nach dem Putsch noch mehr als zuvor. Die Türkei muss sich entscheiden – nicht nur im syrischen Höllenspiel, meint unser Kommentator Michael Weißenborn.

Stuttgart - Fast sieht alles nach trauter Eintracht aus: Pünktlich zum Besuch des US-Vizepräsidenten Joe Biden in der Türkei startet Ankara – vom US-Militär unterstützt – eine Großoffensive gegen die Terrororganisation Islamischer Staat direkt hinter der syrischen Grenze. Wenn das nicht demonstriert, dass die Türkei im US-geführten Kampf gegen die islamistische Mörderbande mit von der Partie ist, was dann noch? Doch die türkische Intervention ist auch die Antwort auf das blutige Massaker bei einer Hochzeit in Gaziantep vom Wochenende. Schon an Ankaras Begründung für die Intervention werden deshalb die Grenzen der Einigkeit deutlich: Die Offensive diene dem Schutz vor dem Terror, sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan. Dazu aber zählt er auch die syrischen Kurden – die von Washington als Bündnispartner in Syriens Bürgerkrieg unterstützt werden.

Es zeigt sich an zahlreichen weiteren Bruchstellen, dass im Verhältnis zwischen dem Westen und der Türkei nichts mehr selbstverständlich ist. So ist eine Mehrheit der Türken nicht von der Verschwörungstheorie abzubringen, Europa und die USA hätten den fehlgeschlagenen Militärputsch unterstützt. Türkische Politiker, auch viele aus der Opposition zu Erdogans regierender AKP, werfen ihren Kollegen im Westen vor, über die Reaktion Ankaras auf den Coup mehr bestürzt zu sein als über das Blutbad der Putschisten. Im Westen wird dagegen zu Recht beklagt, dass die Erdogan-Regierung bei der Verfolgung vermeintlicher Anhänger des Predigers Fethullah Gülen weit über das Ziel hinausschießt: Mehr als 80 000 Personen aus allen Gesellschaftsbereichen sind – oft mit fadenscheinigen Beweisen – verhaftet, entlassen oder suspendiert worden. Dieses Vorgehen untergräbt Rechtsstaat und Demokratie.

Schlechte Aussichten für ein Ende des Mordens in Syrien

Auch die jetzt aufs Neue demonstrierte türkisch-amerikanische Waffenbrüderschaft in Syrien kann über Gegensätze zwischen Washington und Ankara nicht hinwegtäuschen. Das sind schlechte Aussichten für ein Ende des Mordens in Syrien. Ein eigenständiger Kurdenstaat an der syrisch-türkischen Grenze ist für Ankara das Albtraumszenario, dessen Verhinderung alles andere unterordnet wird. Da wird der Erzfeind in Syrien, Machthaber Baschar al-Assad, den die Türkei lange mit Islamisten bekämpft hat, plötzlich wieder als Interimpräsident hinnehmbar. Und auch die Wiederannäherung an Russland und den Iran scheint vom Ziel geleitet, die Kurdenfrage mithilfe der beiden Staaten unter Kontrolle zu bekommen. Zudem lässt sich damit dem Westen eins auswischen. Eine politische Lösung für Syrien oder auch nur ein Waffenstillstand, um den Menschen in zerbombten Städten wie Aleppo endlich zu Hilfe zu eilen, bleibt so auf der Strecke.

Nicht nur im syrischen Höllenspiel muss die Türkei ihre strategischen Prioritäten klären. Eigentlich teilen das Land und der Westen vitale Interessen, nicht zuletzt im Antiterrorkampf. Ankara bleibt ein wichtiger Nato-Partner und EU-Beitrittskandidat in einer Weltregion in Aufruhr. Amerika und die Europäer müssen besser verstehen, wie sehr das Land unter Terror und Flüchtlingswelle leidet, und ihm jede mögliche Unterstützung zukommen lassen. Das aber ist kein Freibrief für einen Abmarsch in den autoritären Staat. Die Türkei würde unter demokratischen Rückschritten selbst am meisten leiden. Seit Jahren driften die einst proeuropäische Erdogan-Regierung und der Westen auseinander. Nach dem Putsch noch mehr als zuvor. Wohin es geht? Die Türkei muss sich entscheiden.