Zweifel am Sinn der WM, aber Begeisterung für die Seleção Foto: dpa

Armes reiches Brasilien: 8,5 Milliarden Euro stecken in der Infrastruktur der Fußball-WM. Sechs Milliarden bleiben am Steuerzahler hängen. Zu viel, sagen die Kritiker und rufen angesichts sozialer Ungerechtigkeiten zu Protesten auf.

Stuttgart - Fußball-Funktionäre sagen immer dann, dass sie keine Politiker sind, wenn ihnen mal wieder der Kittel brennt. Und in diesen Tagen brennt er lichterloh. Dabei ist die These vom politikbefreiten Sport in etwa so sinnvoll wie die Annahme, dass es sich bei einer Fußball-Weltmeisterschaft ja nur um ein harmloses Freizeitvergnügen handle. Ein weltumspannendes Spektakel, das vier Wochen lang die Aufmerksamkeit der Menschheit auf sich lenkt, ist immer auch ein politischer Akt, der die Verhältnisse im Land des Gastgebers widerspiegelt und beleuchtet. Und alles spricht dafür, dass gerade das an diesem Donnerstag beginnende Turnier in Brasilien ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefern wird. Als wäre es die passende Antwort auf die Hybris dieser Kommerz-Orgie, trifft in den kommenden vier Wochen die unnachsichtige Geldmaschine des Fußball-Weltverbands (Fifa) auf ein reiches armes Land, dessen Gesellschaft nicht in allen Teilen Schritt halten kann mit dem rasanten Rhythmus wirtschaftlichen Wachstums. 

„O gigante acordou“, der Riese ist erwacht, rufen die Menschen und lehnen sich argwöhnisch auf gegen den Kolonialherrenstil der Radikal-Vermarkter im Schlepptau des allmächtigen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter. Statt Prunk und Protz in teuren Stadien, statt Steuerfreiheit für die Fifa fordern sie das Ende der Korruption in Staat und Gesellschaft, Investitionen in Gesundheit, Bildung und Sicherheit. 8,4 Milliarden Euro stecken in der Infrastruktur rund um die WM. Rund sechs Milliarden davon gehen zulasten der Steuerzahler. Und deren Botschaft ist unmissverständlich: Sie sind für dieses Fußballfest, aber nicht um jeden Preis. Wie erbärmlich und unsensibel muss es wirken, wenn die Fifa dem Bürgermeister von Santo André, Gastgeberort der deutschen Mannschaft, verbietet, einen Kalender mit dem WM-Maskottchen Fuleco zu bestücken. Für das Fifa-Logo am Ortseingang des Örtchens an der Atlantik-Küste wurden sogar kleinlich Nutzungsgebühren eingefordert. 

Doch aller Zorn über Verschwendung und soziale Ungerechtigkeit hindert die Brasilianer nicht an ihrer Begeisterung über „futebol-arte“, die Kunst des Fußballs. „Kein Volk liebt so intensiv wie unseres“, schrieb Sócrates, der geniale Fußballer, Mediziner und Gelegenheits-Philosoph. Und deshalb wird das Gelingen der „copa das copas“, der Mutter aller Weltmeisterschaften, nicht unwesentlich davon abhängen, wie die Seleção um Superstar Neymar, die Nationalelf, abschneiden wird bei ihrer „missão hexa“ – der Jagd nach dem sechsten Weltmeistertitel. Seit Monaten schon verfolgen die Menschen des riesigen Landes die Arbeit von Coach Felipe Scolari so gebannt, als hätte er sie vor einer Hungersnot zu bewahren. Und mehr denn je gilt vor dem Anpfiff zur 20. WM-Endrunde: Für den Erfolg gibt es keinen Ersatz.

Das gilt so ähnlich auch für Joachim Löw und seine Mannschaft. Mit einer Mischung aus erfahrenen, aber angeschlagenen Routiniers wie Miroslav Klose oder Sebastian Schweinsteiger und perfekt vermarkteten, aber in epischen Schlachten noch unerprobten Jungunternehmern wie Mario Götze oder Mesut Özil greift der Bundestrainer nach dem vierten Stern. Kommt das deutsche Gesamtkunstwerk ins Kombinieren, hat es nur wenig zu fürchten. Die Alleinstellungsmerkmale sind Technik, Tempo und Spielwitz. Offen bleibt, ob die Auswahl einer westlichen Wohlstandsgesellschaft am Ende eines quälend langen Turniers noch das aufzubringen vermag, was große Mannschaften zu historischen macht: die unbedingte Fähigkeit, unter extremen Bedingungen über physische und psychische Grenzen zu gehen. Die WM do Brazil wird eine Grenzerfahrung – in vielerlei Hinsicht.