Ein syrischer Soldat betrachtet nach der Eroberung Palmyras durch Regierungstruppen die Überreste einer von Islamisten zerstörten antiken Statue. Foto: AFP

Der Islamische Staat hat große Teile des syrischen Weltkulturerbes Palmyra verwüstet. Doch dessen Geschichte und Faszination hat er nicht auslöschen können.

Stuttgart - „Qart-Hadašt“ – die „Neue Stadt“ wurde Karthago von seinen Bewohnern genannt. Karthago die Große wurde im 9. Jahrhundert v. Chr. von phönizischen Siedlern aus Tyros gegründet und wuchs im Laufe der Jahrhunderte zu einer imperialen See- und Handelsmacht heran. Drei lange Kriege führten die Karthager gegen die römische Republik. Am Ende stand die totale Vernichtung ihrer Stadt und die Versklavung ihrer Überlebenden. Nach dreijähriger Belagerung eroberten 146 v. Chr. Roms Legionen unter Scipio Aemilianus die Metropole östlich des heutigen Tunis. Schleiften Mauern, Tempel, Festen, Wohnhäuser.

Karthago, Troja, Palmyra – Sinnbild totaler Vernichtung von Kultur

Karthago ist zum Sinnbild der totalen Vernichtung von Kultur und Geschichte geworden. 1951 schrieb der deutsche Dramatiker Bertold Brecht (18989-1956) bitterbös: „Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.“

Karthago, Troja, Mykene, Babylon, Ninive, Tenochtitlan: Endlos ist die Liste einst blühender Metropolen, von denen durch menschliches Wüten nur Fragmente, Inschriften und Legenden geblieben sind. Es ist das Schicksal jeder kulturellen Leistung, dass all ihre Herrlichkeit irgendwann ein Ende hat. Dass Städte zu Staub und das Leben ihrer Bewohner zur Erinnerung wird. Palmyra, diese sagenumwobene Oasenstadt im Nirgendwo der Syrischen Wüste, ist es in ihrer jahrtausendealten Geschichte nicht anders ergangen. Und auch New York, Paris, London, Berlin, Peking und Neu-Delhi wird es nicht anders ergehen.

„Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, Und neues Leben blüht aus den Ruinen“

Meist ist es der Zahn der Zeit, der an Bauwerken nagt und sie verfallen lässt. Doch In unzähligen Fällen hat der Mensch kräftig nachgeholfen, dass von kulturellen Großtaten nur Trümmer übrig blieben. Die Nachkommen bauten nicht selten an verkohlter Stätte neue Behausungen. Getreu dem Aphorismus Friedrich Schillers (1759-1805) aus „Wilhelm Tell“: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

Doch auch dort, wo nur Ruinen stehen, herrscht Anmut, Ästhetik, Erhabenheit und Größe. Wer Petra in Jordanien, Palmyra in Syrien oder Machu Picchu in Peru gesehen hat, wird sich dem Zauber des Verfallenem nicht entziehen können. Auch tote Steine strahlen eine Sehnsucht aus – eine morbide zwar, aber nicht weniger beeindruckend als lebendig-quirlige Städte.

Restauration und Reproduktion

Was Architektur und Denkmalpflege als Restauration bezeichnet, ist in Wahrheit eine Reproduktion, auch wenn bestenfalls ein möglichst originalgetreuer Wiederaufbau angestrebt wird. Was ist das Baukunst anders als ein ewiger Prozess? Ist der Kölner Dom ein müder historistischer Abklatsch des Originals, weil die Dombaumeister des 19. Jahrhunderts die Arbeit der mittelalterlichen Handwerker mit den technischen Mitteln des industriellen Zeitalters vollendeten? Die Zerstörung ist ein authentischer Teil der Chronologie eines Bauwerkes. Insofern ist auch die traurig-mörderische zehnmonatige Herrschaft des Islamischen Staates über die Ruinen von Palmyra eine Episode ihrer Geschichte.

Mit jeder Rekonstruktion geht unweigerlich ein Stück Echtheit verloren. Der Verlust ist umso größer, je weniger Originalsubstanz vorhanden ist oder verbaut wird. Vom Beel-Tempel in Palmyra steht nur noch ein Torbogen. Bautechnisch wäre es kein Problem, ihn mit Hilfe herumliegender Trümmerteile und neuer Steine in seiner Gestalt vor der Zerstörung durch den IS wiederauferstehen zu lassen. Man könnte die sakrale Anlage sogar auf der Grundlage historischer Quellen nachbauen. Damit wäre allerdings die Grenze zu einem archäologischen „Disneyland“ überschritten. „Fingerspitzengefühl“ ist bei der Restauratoren gefragt, wie es der Berliner Archäologe Markus Hilgert fordert. So viel wie möglich, so wenig wie nötig.

Die richtige Mitte zwischen Übermaß und Mangel

Der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat dieses Postulat, stets die richtige Mitte (griechisch „mesotes“) zwischen Übermaß und Mangel zu treffen, als Tugend des Maßhaltens bezeichnet. Was für die Ethik gilt, gilt genauso für die Auferstehung der Ruinen. Die Weltkulturerbe von Palmyra hat durch die Barbarei des IS ein Teil seiner materiellen Substanz verloren, nicht aber seine ideelle Imagination, Inspiration, seinen Zauber. Zur „Seele“ großer Bauwerke gehört immer auch seine Geschichte mit den Menschen der jeweiligen Epochen. Für die Syrer von heute ist Palmyra das Fanal eines grausamen, nicht enden wollenden Bürgerkrieges. Die Ruinenstätte kann aber auch zu einem Symbol einer besseren, friedlicheren Zukunft werden.

Palmyras Wiederaufbau ist ein Akt der Humanität

Dass zuallererst die drängendste Not der Menschen gestillt werden muss, steht außer Frage. Doch auch der Wiederaufbau dieses einzigartigen Weltkulturerbes ist ein Akt der Humanität, der neue Identität und Zuversicht zu stiften vermag. Weder sind Ruinen nur leblose Materie noch ist Kultur ein Appendix menschlicher Existenz. Wie sagt der österreichische Psychiater Viktor Frankl (1905-1997), der das KZ Auschwitz überlebte: „Wie oft sind es erst die Ruinen, die den Blick freigeben auf den Himmel.“