Auch fein . . . Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Vor lauter Feinstaub kommt das Feine unter die Räde, findet Kommentator Jan Sellner. Lokalen Feinheiten sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Stuttgart - Angesichts der Luftverhältnisse in Stuttgart ist man versucht, sich aus dem Feinstaub zu machen. Das Thema hängt einem in den Kleidern, es ist lästig. Doch das Jammern hilft nichts. Der Feinstaub existiert – postfaktische Mode hin oder her. Das Problem lässt sich auch nicht beschönigen. Die ultrafeinen Kohlenstoffkerne, an die sich Sulfate, Nitrite, Gase oder Bakterien anlagern, dringen tief in die Lunge ein und können Krankheiten bis hin zu Lungenkrebs verursachen. Deshalb ist es wichtig, die Feinstaubbelastung in der Stadt zu reduzieren. Gelingt das, können alle durchatmen. Dann spricht man hoffentlich auch wieder in anderem Zusammenhang von „fein“.

Verkehrsbedingt ist das Feine zuletzt nämlich heftig unter die Räder gekommen. Als gäbe es kein Feingebäck, kein Feingefühl und keine Feinsinnigkeit begegnet einem „fein“ nur noch in Kombination mit „Staub“ und „Alarm“. Stuttgart wird bundesweit als Stadt des Feinstaubs wahrgenommen, dabei ist vieles andere hier „vom Feinsten“ – beim kulturellen Leben angefangen. Tragen wir also etwas zur Ehrenrettung des Feinen bei, trennen wir es vom „Staub“ und widmen uns – losgelöst von der Verkehrsproblematik – einige Sätze lang lokalen Feinheiten. Das mag weit hergeholt sein, hat jedoch seine Berechtigung, weil das Feine generell zu wenig Beachtung findet. Ganz anders als das Grobe. Sprachliche Feinkost ist leider selten. Oder man nimmt sie nicht wahr angesichts des Tons, der in sozialen Netzwerken herrscht. Die Sprache dort ist oft derb, laut, verletzend. Das strahlt auf die Kommunikation insgesamt aus und beeinträchtigt die Diskussionskultur in Politik und Gesellschaft.

Das Feine kann man hören

Wo bleibt das Feine? Die Tatsache, dass es öffentlich nicht in Erscheinung tritt, heißt nicht, dass es keine Nachfrage gäbe. Oder dass es nicht existierte. So unbeachtet das Feine vielfach bleibt, Stuttgart ist voll davon. Fein ist beispielsweise die Aktion des Vereins helfende Hände, der zusammen mit Helfern anderer Stuttgarter Vereine alle Jahre wieder – so auch jetzt – Weihnachtsgeschenke für Kinder packt, an die sonst keiner denkt. Straßenkinder im wohlhabenden Stuttgart – dieses Problem ist so reell wie der Feinstaub. Auch wenn man’s nicht sieht.

Das Feine kann man hören. Fein sind zum Beispiel die Stimmen des Internationalen Chors, der sich vor einem Jahr in Stuttgart gebildet hat, eine lose Gemeinschaft aus einheimischen Sängern und Flüchtlingen, die jeden Dienstag um 17 Uhr der Einladung zum gemeinsamen offenen Singen ins Foyer des Schauspielhauses folgen. Daraus ist zuletzt viel Feines entstanden – auf der Bühne und dahinter: Kontakte, Freundschaften, Pläne.

Die Stadt wirbt für „Dust in the Wind“

Feinsinnig ist das, was Abdulrahman gestaltet, ein vom Krieg in Syrien gezeichneter 17-jähriger Junge, der unlängst auf Initiative eines Großhändlers für Künstlerbedarf in Leinfelden-Echterdingen einen Nachmittag lang Miniaturfiguren aus Knet anfertigte und ein staunendes Publikum fand. Unspektakulär, aber fein. Wie die Auftritte junger Künstler bei der Nacht der Lieder diese Woche im Theaterhaus zugunsten der Aktion Weihnachten unserer Zeitung. An zwei Abenden bewiesen 2000 Zuschauer Gespür für Feines.

Fein und apart ist nebenbei auch die Idee der Stadt Stuttgart, mit Musiktiteln für die Bildung von Fahrgemeinschaften zu werben, um die Luftqualität zu verbessern. Ein Titel lautet: „Dust In The Wind“. Womit wir wieder beim Feinstaub wären.

jan.sellner@stn.zgs.de