Das brennende Krankenhaus der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ im afghanischen Kundus: Verzweifelt versucht, den US-Luftangriff zu stoppen. Foto Foto: MSF

Der US-Luftangriff auf das Hospital von „Ärzte ohne Grenzen“ in Kunduz war kein „tragischer Unfall“, sondern ein Verbrechen – kommentiert Franz Feyder.

Kundus - Das also ist für US-Präsident Barack Obama ein „tragischer Unfall“. Weil außer dem mächtigen Anführer der westlichen Welt auch viele seiner Mitpolitiker sich „tragische Unfälle“ offenbar sehr abstrakt vorstellen, schauen wir einmal ganz genau hin, was da in Kundus geschah: Eine Stunde und sieben Minuten lang griffen Kampfjets der US-Luftwaffe in der Nacht zum vergangenen Samstag ein Krankenhaus an. In dem versorgen seit Jahren Mediziner der Hilfsorganisation ohne Grenzen Afghanen. Um sicherzugehen, dass die Klinik nicht zufällig bombardiert wird, übersandten die Nothelfer nochmals vor einer Woche die metergenauen Koordinaten des Hospitals ans Nato-Hauptquartier in Kabul.

80 Mediziner und Pfleger sowie 105 Patienten befanden sich in dem Krankenhaus, als die ersten US-Bomben im Hauptgebäude der Klinik einschlugen. Verzweifelt telefonierten die Ärzte ohne Grenzen mit Offizieren des Nato-Hauptquartiers, um die Attacke zu stoppen. Vergeblich. Auf der Intensivstation verbrannten sechs Patienten bei lebendigem Leib in ihren Betten. Einen „Geruch so intensiv wie in einer Räucherkammer“ riecht unser Reporter. Verkohlte Menschen, die Hände verkrümmt vor die entstellten Gesichtern haltend. Auf dem OP-Tisch ein von einer Explosion zerfetzter Patient.

Das, Herr Präsident, ist Ihr „tragischer Unfall“. Der, den Ihr verantwortlicher General John Campell„aus Versehen anordnete“: Mindestens 22 Menschen starben – bislang. 35 wurden verletzt – einige schweben in Lebensgefahr. Ein Kriegsverbrechen, heißt es in Artikel 51 des ersten Zusatzprotokolls zum Genfer Abkommen, ist „ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung . . . verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“. Weit und breit um das Krankenhaus herum hat kein einziger Augenzeuge nur einen gesehen.

Es wird wie immer sein: untersuchen, entschuldigen, zahlen

Was auch nichts ändern würde. Denn es wird ausgehen wie immer bei diesen „tragischen Unfällen“: untersuchen. Diplomatisch verklausuliert Mitschuld eingestehen. Hinterbliebene mit ein paar lausigen Dollar ruhigstellen. Perfide an diesem schon eingespielten Ritual ist, dass es nur funktioniert, weil die Armut der Menschen am Hindukusch so groß ist und sich keine gewieften Anwälte für sie interessieren. Jeder, der sich in einem Schnellrestaurant in den USA auf feuchtem Boden den Fuß verknackst, hat mehr Schmerzensgeld zu erwarten als die Witwen und Waisen von Kundus. Wegen eines Kriegsverbrechens werden sich weder Obama, sein General Campell noch die Piloten der Jets verantworten müssen. Und erst recht nicht die vom Westen offenbar mangelhaftest ausgebildeten afghanischen Elitesoldaten, die den Luftangriff anforderten.

Dafür werden viele Politiker im Westen zügig zum Alltag übergehen: Sie werden über ihre Wertegemeinschaft schwadronieren. Auch mit Blick auf das Kriegsvölkerrecht. Werden bei dessen Anwendung künftig dieselben Maßstäbe wie heute für den Luftangriff von Kundus auch morgen gelten, wenn bei Attacken russischer Jets in Syrien ein Zivilist getötet wird? Wird die Welt künftig in die „guten Kollateralschäden von Kundus“ und die „bösen Kollateralschäden von Syrien“ eingeteilt? Der nächtliche Angriff von Kundus führt vor Augen: Kriege werden mitten in der Bevölkerung geführt. Nicht chirurgisch genau um sie herum. Den Tod von Zivilisten nehmen Strategen und Truppenführer billigend in Kauf.

Das alles ist kein „tragischer Unfall“. Das alles ist ein Verbrechen.