Der Spatz findet keine Nistplätze mehr Foto: dpa

Politiker fordern Spielräume, doch die Natur braucht rigide Gesetze. Der Artenschutz muss nerven, findet Redakteur Frank Rothfuß.

Stuttgart - Die Schwalben waren müde. Zu Tausenden starben sie, der September 1974 war viel zu kalt, es gab keine Insekten. Die Tiere stürzten ausgezehrt zu Boden und verhungerten. Um sie zu retten, fingen Naturschützer die Vögel, setzten sie in Kartons und brachten sie mit dem Auto, dem Zug oder dem Flugzeug nach Italien und Frankreich.

Sage und schreibe eine Million Schwalben reisten so gen Süden. Die Aktion sorgte für Aufsehen, erstmals war der Artenschutz in aller Munde. So mancher Zeitgenosse fand allerdings, das sei viel zu viel Gewese um ein paar Vögel, und überhaupt solle man doch lieber dafür sorgen, dass in Bangladesch die Menschen nicht verhungern.

Man sieht, die Kritik am Artenschutz ist nicht neu. Heute kommt sie in der Regel feiner gesponnen daher. Niemand bestreitet hierzulande mehr öffentlich, dass der Mensch die Umwelt achten und Tiere und Pflanzen schützen müsse. Aber man stichelt hier und da doch gerne mal, zupft und zieht an den Gesetzen, ob sie nicht dehnbar seien. Vorneweg marschiert die Regierung. Verstört von der Erkenntnis, dass Windräder keine Vögel schreddern dürfen, nörgelt und quengelt sie. SPD-Haudrauf Claus Schmiedel findet, der Rotmilan solle sich nicht so anstellen und Schläge gegen den Kopf mannhaft hinnehmen. Landesvater Winfried Kretschmann sagt, rechtlicher Spielraum müsse zugunsten der Rotoren genutzt werden.

Juchtenkäfer innig ins Herz geschlossen

Zur Erinnerung, der Mann ist bei den Grünen. Die haben sich mal sehr für den Artenschutz eingesetzt. Den Juchtenkäfer hatten sie innig ins Herz geschlossen. Doch die Kritik kommt von Politikern und Bürgermeistern jeglicher Couleur. Auch Vertreter der CDU fühlen sich gegängelt, das Christliche führen sie zwar im Namen, das Bewahren der Schöpfung ist im Zweifel aber weniger wichtig als die Gewerbesteuereinnahme oder die neue Umgehungsstraße. Alle hätten sie gerne mehr Spielräume.

Es ist so eine Sache mit den Spielräumen. Gibt es sie, dann werden sie genutzt. Ein paar Rote Milane erwischt es am Hinterkopf, schade, aber wir brauchen den Spielraum, Windkraft ist wichtig. Ein paar Eidechsen werden plattgemacht, schade, aber wir brauchen den Spielraum, Flüchtlingsheime sind wichtig. Ein paar Käfer werden heimatlos, schade, aber wir brauchen den Spielraum, ein neuer Bahnhof ist wichtig. Ein paar Feldhamster werden vertrieben, schade, aber wir brauchen den Spielraum, Wohnungen sind wichtig.

Ja, der Artenschutz nervt. Er muss nerven. Er schützt nämlich jene, die keine Stimme haben, die womöglich hässlich oder gar nicht zu sehen sind – wie den Juchtenkäfer. Stellen wir uns mal vor, in Hofen würden Pandabären leben, so richtig knuffige Tierchen mit großen Augen. Würde die jemand vertreiben? Natürlich nicht. Der Aufschrei wäre riesig. Die Eidechsen haben aber bloß Schuppen und kein Flauschefell, sind sie deshalb weniger schützenswert? Und was ist mit der Gelbbauchunke und dem Sichelmoos? Auch sie schützt das Gesetz.

So streng es ist, muss man leider feststellen: Es verhindert nur das Schlimmste. Jeden Tag werden in Baden-Württemberg 5,3 Hektar Land zubetoniert. Das sind pro Jahr sage und schreibe 2600 Fußballfelder. Das bedeutet: Lebensräume verschwinden, damit Pflanzen und Tiere. Schwalben gibt es noch ganze 300 Stück in Stuttgart. Der Tag ist absehbar, an dem sie nicht nur müde sind – sondern alle tot.