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Ob Bundesliga oder nicht: Der VfB hat in einer der tiefsten Krisen seiner Historie die Chance, sich neu zu definieren.

Stuttgart - Was wohl Leo, der VfB-Fan, zu all dem gesagt hätte? Wenn Menschen wie eine Springflut ins Innere des Stadions strömen. Mit vermummten Gesichtern und erhobenen Fäusten. Mit Handys, die sie wie Waffen zücken. Bereit für ein bisschen Randale. Und für ein Video, das vor allem eines zeigt: wie krank der Fußball manchmal ist.

Leo war unser Trainer, als wir einen Pass mit dem Innen- noch nicht von dem mit dem Außenrist unterscheiden konnten. Und wenn ich etwas ungestraft über ihn behaupten kann, dann, dass er Spuren hinterlassen hat. Als Mensch und als Trainer. Er hat uns gelehrt, dass Fußball nicht alles ist, aber eine wertvolle Schule fürs Leben. Wer auf den Boden spuckte, wurde ausgewechselt. „Freundchen, wir sind doch kein Lama-Verein.“ Wer während des Trainings rülpste, den schickte Leo nach Hause. „Der Uwe braucht heute mal ’ne Pause. Hat irgendwas mit dem Magen!“ Und wenn wir während des Spiels mit erhobenen Armen Abseits reklamierten, bat er im nächsten Training zu einer Extraschicht Liegestütze. „Ihr kriegt sonst wieder den Krampf im Arm.“

Ob wir Leo mochten? Ich würde mal so sagen: Wir schauten zu ihm hoch. Weil er vorlebte, was er uns beizubringen versuchte. Es war eine kleine Welt, aber eine mit großen Werten. Solche, die dem Sport seine soziale Bedeutung geben, die ihn gesellschaftlich legitimieren. Leo war Mittelstürmer, Bezirksliga. Er hätte abgewinkt und gesagt: „Nichts Besonderes.“

Aber er zeigte uns, wie man immer sein Bestes gibt. Dass man fallen kann, aber wieder aufstehen muss. Wie man im Triumph nicht die Demut verliert und in der Niederlage nicht den Stolz. Er lehrte uns, dass es im Fußball Ungerechtigkeiten gibt, unerwartete Siege und unverhoffte Niederlagen. „Aber nichts davon ist so“, sagte Leo, „dass ihr den Respekt vor euren Mitspielern oder Gegnern verlieren dürft.“

„Jungs“, pflegte Leo zu sagen, „denkt an Fairness und Anstand. Macht euch nie größer, als ihr in Wirklichkeit seid.“

Das erste Länderspiel nach dem Krieg hatte Bedeutung über den Sport hinaus

Er erzählte uns Geschichten von großen Fußballern wie Uwe Seeler oder Pelé und wichtigen Trainern wie Sepp Herberger, Hennes Weisweiler oder Sir Alf Ramsey, von historischen Spielen und davon, wie tief Fußball die Seelen der Menschen berühren kann. Dann zog er ein Bild aus der Tasche. Zerknittert, vergilbt, schwarz-weiß. Vom ersten Länderspiel der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. 100 000 Menschen im Stuttgarter Neckarstadion. Mit gespannten Gesichtern, dicht gedrängt bis an den Spielfeldrand. Eins zu null gegen die Schweiz. „Mein Vater war dabei“, erzählte Leo und stockte. „Als er nach Hause kam, hatte er Tränen in den Augen.“ Sie haben nie darüber gesprochen. Leo vermutete, dass sein Vater erst nach diesem Spiel wieder an eine friedliche Zukunft glaubte. Als habe erst das Duell gegen die Schweiz den Krieg für immer beendet. Das alles ist mir wieder eingefallen, als ich die Bilder nach dem 1:3 gegen Mainz 05 vor Augen hatte. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit dem Freiburger Präsidenten Fritz Keller: „Jeder Verein hat das Publikum, das er verdient.“

Ich dachte, dass es in der womöglich schlimmsten Krise in der Vereinsgeschichte des VfB vielleicht an der Zeit wäre, noch einmal über alles nachzudenken. Die Wertewelt neu zu justieren. Ist es im Sinne des Spiels, dass Menschen öffentlich aufs Übelste beleidigt werden? Dass man Gegner als Hurensöhne beschimpft? Werden Anstand und Fairness nicht mit Füßen getreten, wenn Menschen von den Menschen angegangen werden, deren Unterstützung sie in diesem Augenblick am meisten brauchen? Warum ist heute jemand ein „Fußball-Gott“, morgen ein „Scheiß-Millionär“?

Und wie arrogant sind wir eigentlich, wenn wir denken, dass immer nur wir diejenigen sind, die niemals absteigen? Der Fußball bezieht seinen Reiz auch daraus, dass die Etablierten nicht davon ausgehen können, für immer unter sich zu bleiben. Und haben die Darmstädter nicht gezeigt, wie viel man aus wenig machen kann? Mit Leidenschaft, aber ohne Brimborium?

Zu viel Business und Theater, zu wenig ehrliche Arbeit

Leo würde sagen, dass wir inzwischen alles ein bisschen übertreiben: Geld, Wohlstand, Aufmerksamkeit, Ruhm und Kult um die Stars. Und dass es nicht mehr der Fußball ist, den wir eigentlich wollen. Zu viel Theater, Business und Politik, zu wenig ehrliche Arbeit. Und alles weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen. Mit Trainingseinheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber mit Profis, die nach dem Spiel bei den VIPs in den Logen den Diener machen. Und zerstückelten Spielplänen, die den Fans bedeuten, dass sie nur noch nette Staffage sind im Eventcenter der Mediengesellschaft.

Ganz gleich wie die Saison für den VfB noch enden wird, sie eröffnet die Chance, endlich wieder zu fördern, was verbindet, und zu vermeiden, was trennt. „Wahre Liebe“, würde Leo wohl sagen, „ist keine Einbahnstraße.“ Und ein Abstieg kein Weltuntergang. Wenn man in seiner Enttäuschung nicht vergisst, was wirklich wichtig ist. Im Fußball und im Leben.