Alex Köberlein verabschiedet sich Ende 2017 mit seiner Band Grachmusikoff. Foto: Gottfried Stoppel

Marschmusik hat’s dem heutigen Ministerpräsidenten angetan, ein Schwobarocker schrieb die Hymne zur Pubertät: Veteranen der Popszene ließen im Theaterhaus alte Zeiten hochleben. Unser Kolumnist Uwe Bogen sprach mit „Altrockern“.

Stuttgart - Fast immer sind sie zu zweit im Auto zu Parteitagen der Grünen gefahren: Winfried Kretschmann und Christoph Wagner. Der Ältere (1948 geboren in Spaichingen) ist heute Ministerpräsident, der Jüngere (1956 geboren in Balingen) Musikjournalist. Politisch mögen sie sich in den Gründerjahren der Ökopartei einig gewesen sein – was die Musik anging, trennten sie aber Welten.

„Der Winfried wollte im Auto immer Marschmusik hören“, erzählt Autor Wagner im Glaskasten des oberen Theaterhaus-Foyers, in den der Silberburg-Verlag nach der Präsentation seines Buchs „Träume aus dem Untergrund – Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten“ (unsere Kulturredaktion hat über die tolle Neuerscheinung berichtet) Buchhändlerinnen wie Susanne Martin (Schiller-Buchhandlung), Musiker wie Erich Schmeckenbecher (Zupfgeigenhansel), Autoren wie Jürgen Seibold, Vertreter der jungen Musikszene wie DJane Alegra Cole und einen sehr bekannten Politiker zu Butterbrezeln und Flaschenbier eingeladen hat.

Wagner, der heute in England lebt, liebte Rock und Beat, womit Kretschmann nichts anfangen konnte. In dem kleinen Auto ist heftig um die Soundhoheit gerungen worden. Der Streit endete meist mit einem Kompromiss. Es lief gar keine Musik!

Nach über 30 Jahren hört Titus Häussermann als Verleger auf

Der Freundschaft der beiden Ur-Grünen verdankt Titus Häussermann im Endspurt seiner einzigartigen Verlegertätigkeit (nach über 30 Jahren verabschiedet er sich bald, was in der Buchszene sehr bedauert wird) den Coup, einen waschechten Ministerpräsidenten bei der Buchpremiere seines kürzlich nach München verkauften Schwabenverlags präsentieren zu können. Kretschmann kurbelt damit in schwierigen Lesezeiten die Verkaufszahlen an. So detailreich erzählt dieser aus dem Werk, dass man ihm glauben mag: Er hat’s wirklich gelesen! Nur kurz bleibt der Regierungschef mit Bodyguards beim Umtrunk im Glaskasten und zieht mit alten Riedlinger Freunden zum Essen und zum Erinnerungsaustausch nebenan ins Theaterhaus-Restaurant.

Bei der Party erinnert sich Alex Köberlein, ein Urgestein der schwäbischen Rockmusik, wie er den Namen Werner Schretzmeier zum ersten Mal registrierte. In den 1970ern bei einem Festival am Bodensee war’s. Immer wieder, erzählt der Grachmusikoff-Sänger, habe es eine Lautsprecherdurchsage gegeben: „Werner Schretzmeier hinter die Bühne kommen.“ Köberlein vermutet System dahinter. Damit habe sich der heutige Theaterhaus-Chef bekannt gemacht.

Grachmusikoff auf Abschiedstour

Ende des Jahres wird sich der 65-jährige Köberlein mit Grachmusikoff für immer verabschieden. Es sei Zeit zum Abtreten, findet er. Warum Kollegen endlos weiterrocken, habe einen einfach Grund: Sie seien alt und bräuchten das Geld! Die Rente der meisten Musiker, die in ihrer aktiven Zeit wenig hätten einzahlen können, sei zu gering. Bei Köberlein kommen wenigstens Gema-Gelder dazu. Sein Hit „Oiner isch emmer dr Arsch“ läuft noch immer. Im StN-Stadtbüro spielt an diesem Samstag zur Stuttgartnacht die Band Muggabatschr die „Schwabenhymne“ – natürlich haben wir’s bei der Gema angemeldet. Einen Vers, sagt Köberlein, zitierten fast alle, wenn sie ihn auf den Schwoißfuß-Hit ansprechen: „De gaile Böck, dia hand a Freindin, / de Brave, dia gugged blöd,/de oine, dia siehsch en dr Disco, / de andere, dia wixed em Bett.“

Im pubertären Leben der 1980er trieb der Vers viele um. „Dabei ist dieser Teil im Lied doch gar nicht wichtig“, sagt der Musiker, „aber das bleibt hängen.“

Was bei ihm hängenbleibt, stimmt, wie er in der Veteranennacht des Theaterhauses sagt. Ja, es sei bis heute unklar, von wem ein 1973 geborener Sohn stamme, von ihm oder von seinem eineiigen Zwillingsbruder.

Es klingt wie aus einer Soap: Beide hatten fast zur selben Zeit dieselbe Frau in diesen verdammt wilden 1970er Jahren wohl sehr, sehr lieb. Ein DNA-Test habe beim selben Genmaterial keine Klarheit geschaffen.

Jimi Hendrix spielte 1969 in der Liederhalle

Beim Veteranentreff im Theaterhaus wird immer wieder über legendäre Konzerte gesprochen. Wisst ihr noch, wie die Rolling Stones 1970 den Killesberg unsicher machten? Wer sah Jimi Hendrix 1969 in der Liederhalle? Autor Wagner war durch Zufall an ein sensationelles Musikdokument gekommen, das von einem Orgelbauer stammt. Der war anno 1969 zu Hendrix einfach mit dem Kassettenrekorder in den Beethovensaal marschiert – Kontrollen gab’s keine. Von Reihe 20 aus nahm er alles auf. SWR 2 hat den Mitschnitt von der Kassette im Studio nachgebessert und vor einigen Jahren Ausschnitte daraus gesendet.

19. Januar 1969, als Jimi Stuttgart rockte – das ist der Tag, an dem eine neue Zeitrechnung begann. Das erste große Popereignis im Südwesten gilt als Startschuss für die heimische Rockszene. Der Chef des Musikhauses Sound of Music vergisst nie, wie an seinem Laden an der Silberburgstraße eine Lincoln-Limousine vorfuhr. Darin saß der Gitarrengott persönlich. Fans hatten seine Pedale zum Verzerren als Souvenir von der Bühne geklaut. Jimi ging selbst einkaufen.

Ein halbes Jahr später war Woodstock. Anderthalb Jahre später war der drogensüchtige Hendrix mit 27 tot. Erinnerungen werden, je älter wir sind, immer noch größer. Ein Jahrhundertmusiker lässt uns aber ahnen: Auch im Himmel heulen E-Gitarren.

Es muss nicht immer Marschmusik sein.